Im Schatten der Kirschtomaten
Die Region Souss-Massa im Süden Marokkos produziert Obst und Gemüse für den Export nach Europa. Erntehelferinnen auf den Feldern sind wie in Spanien Opfer sexuellen Missbrauchs. Doch in einer Hinsicht ist ihre Situation ganz anders.
Teil 1: Er kommt am Abend
Teil 2: Im Schatten der Kirschtomaten
Teil 3: Nur eine Nummer
Diese Recherche ist eine Kooperation mit dem RTL Nachtjournal und BuzzFeed News.
Die Stadt Ait Aimera ist das Herz und der Motor des landwirtschaftlichen Booms der Region Souss-Massa im Süden des Landes. Vier Frauen haben sich hier zu Tee und Süßigkeiten versammelt. Am Ende eines Tages sengender Hitze taucht die Dämmerung das fensterlose Ziegelhaus in Dunkelheit. Alle Frauen um den Tisch arbeiten in den umliegenden Feldern. Sie tauchen pfannkuchendickes Brot in zähen, goldenen Honig, während sie davon sprechen, was ihnen dort passiert ist.
„Ich habe 2016 drei Monate lang in Gewächshäusern für Tomaten mit einem Vorgesetzten gearbeitet, der Brahim hieß“, sagt Karima, die Jüngste von allen. Sie ist Studentin und arbeitet während der Semesterferien oder an Wochenenden auf den Farmen. Weil Karima beide Eltern bei einem Unfall verloren hat, ist sie auf das Einkommen angewiesen.
Sie finanziert damit ihr Studium und sorgt für ihre beiden jüngeren Geschwister. Eine Situation, die Brahim auszunutzen wusste. Weil Karima Angst davor hat, dass sie sozial stigmatisiert wird und Brahim sich an ihr rächen könnten, wurde ihr Name geändert.
„Er hat oft versucht, mich zu belästigen“, sagt sie. „Er hat mich auf der Arbeit von den anderen getrennt und er hat versucht, mich anzufassen.“ Als Karima ihn abweist, habe er ihr mit Entlassung gedroht.
Das Unternehmen, für das sie damals arbeitet, ist eines der größten in diesem Sektor und verkauft seine Erzeugnisse hauptsächlich nach Großbritannien. Die Straßen in der Region Souss-Massa sind mit riesigen Reklametafeln gesäumt, auf denen die Firma für ihre neueste Tomatensorte wirbt: Gesünder, widerstandsfähiger, saftiger. Auf den Feldern ernten Frauen wie Karima dieses Gemüse für umgerechnet etwa 6 Euro Tageslohn.
Nirgendwo in Marokko ist die Dichte an Gewächshäusern höher, als in Souss-Massa. Die Region ist die treibende Kraft für das erklärte Ziel des Landes, auf den europäischen Lebensmittelmärkten konkurrenzfähig zu werden.
Fast 40 Prozent aller Jobs in Marokko hängen mit der Landwirtschaft zusammen. Die Branche erwirtschaftet 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Mehrzahl der gering bezahlten Beschäftigten auf Farmen und in Verpackungsbetrieben sind Frauen.
Seit Jahrzehnten zieht die Landwirtschaft in der Region nationale und internationale Investoren an. Unternehmen aus Frankreich, Spanien und den Niederlanden nutzen drei Viertel der gesamten Gewächshausfläche, der Rest wird von Kleinbauern, sogenannten „Agriculteurs“, bewirtschaftet.
Die Region Souss-Massa ist der zweitgrößte Lieferant von Kirschtomaten nach Europa. Kirschtomaten sind in vielen deutschen Supermärkten zu finden.
Aber während landwirtschaftliche Exporte die Wirtschaft Marokkos voranbringen, haben die Arbeiter wenig davon. Der Mindestlohn für landwirtschaftliche Arbeiten beträgt umgerechnet etwa 70 Cent pro Stunde.
Noch immer ziehen viele Menschen aus armen Regionen Marokkos, besonders aus dem benachbarten Atlasgebirge, nach Souss-Massa, um auf den Feldern ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Missbrauch von Arbeitern in der marokkanischen Landwirtschaft ist weit verbreitet und gut dokumentiert, zumindest im Norden des Landes, wo hauptsächlich Erdbeeren angebaut werden. Für das Jahr 2013 dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Solidarische Hände (Mains Solidaires) 1.910 Verstöße gegen das marokkanische Arbeitsgesetz, darunter 112 Fälle von Beleidigungen und ungerechtfertigter Bestrafung, 68 unrechtmäßige Entlassungen und zwei Fälle von Vergewaltigung.
Die Organisation Shaml kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Bei Interviews mit Arbeitern in 19 verschiedenen, hauptsächlich von Landarbeitern bewohnten Stadtvierteln im Norden Marokkos dokumentierten die Mitarbeiter im Jahr 2014 855 Fälle sexueller Gewalt, von Belästigung bis Vergewaltigung.
Weil Karima aufgehört hat, für die Firma zu arbeiten, in der Brahim sie belästigt hat, steht sie nun am Morgen neben Dutzenden anderer Frauen auf dem mawkaf von Ait Aimera. An diesem Sammelpunkt warten Arbeiterinnen in den frühen Morgenstunden auf Kleinbauern, die dort ihre Angestellten für den Tag auswählen. Sie klettern auf Pick-up-Trucks, bedecken ihre Gesichter mit dem in der Region traditionellen Schleier, der sie vor Hitze und Staub schützt.
Laut Professor Mohamed Bouchelkha von der Universität Agadir, der die sozialen Auswirkungen der Landwirtschaft in der Region untersucht, ziehen es die Produzenten vor, Frauen zu beschäftigen, weil die als arbeitswilliger gelten. „Die weibliche Belegschaft ist nicht sehr anspruchsvoll, revoltiert nicht, fragt nicht, ist nicht fordernd, was ihre Arbeitsbedingungen angeht“, sagt er. „Sie sind einfach, sie unterwerfen sich den Arbeitsbedingungen, die ihnen gegeben werden.“
Im Gegensatz zu Spanien gibt es in Marokko eine politische Debatte darüber, wie die Arbeitsbedingungen im Agrarsektor verbessert werden können. Sexuelle Übergriffe an Frauen sind Thema eines größeren politischen Kampfes für Menschenrechte. Marokkanische Gewerkschaften wie die Marokkanische Arbeiterunion (UMT) wehren sich gegen niedrige Löhne und gefährliche Arbeitsbedingungen.
Die UMT schult Arbeitnehmer, um sich in den Unternehmen zu organisieren. „Vor 10 Jahren gab es keine soziale Absicherung, keinen sozialen Schutz, keine gesundheitliche Unterstützung für den Arbeiter“, sagt Houcine Boulbourj, Regionalsekretär des nationalen Landwirtschaftssektors der UMT.
In den letzten Jahren haben sie langsam damit angefangen, auch Frauen anzusprechen. „Wir verstehen, dass wir in der Gewerkschaft auf die Dinge hinarbeiten müssen, die Frauen betreffen“, sagt Boulbourj. Mutterschaftsurlaub steht auf seiner Liste, geschlechtergerechte Bezahlung und mehr weibliche Chefs. Mit mehr Frauen in Führungspositionen, so die Logik, käme sexuelle Belästigung weniger häufig vor. Das größte Hindernis aber, das Boulbourj und seine Gewerkschaft überwinden müssen, ist die Auffassung, dass bei sexueller Gewalt auch das Opfer Schuld hat.
Khadija leitet das Frauenkomitee der Gewerkschaften in der Stadt Ait Aimera. Sie ist selbst Erntehelferin und verdient so ihren Lebensunterhalt, seit sie 16 Jahre alt ist. „In der Firma steigt man durch sexuelle Gefälligkeiten in der Hierarchie auf“, sagt sie. „Unter der Drohung, im Falle einer Verweigerung gefeuert zu werden.“
Für sie ist das keine Vergewaltigung oder Körperverletzung. Eine Frau die „Würde“ habe, würde diese Geschäfte nicht akzeptieren, so Khadija. Wäre sie in der gleichen Situation, würde sie einfach gehen. „Aber ich glaube auch, dass andere gezwungen sind es zu tun, wenn sich vor ihnen alle Türen verschließen.“
Die Männer auf den Feldern betrachten jede Frau, die sie sehen, als ihr Eigentum, sagt Khadija. Sie spricht aus Erfahrung. Als sie einmal mit einem Pick-up von der Arbeit zurückkehrte, folgte ihr ein Mann bis nach Hause, schlägt an ihre Tür schlug und versuchte, mit ihr intim zu werden.
Als sie ihn bei den Behörden meldet und dort mitteilt, dass sie Mitglied eines landwirtschaftlichen Verbandes sei, interveniert die Schwester des Mannes und fleht Khadija an ihn nicht anzuzeigen. „Ich habe ihn angezeigt, aber es gab keine Gerechtigkeit“, sagt sie. „Ich vermute, die Schwester hat die Behörden bestochen.“ An einem Ort wie Ait Aimera sind Verbindungen alles und können fast alles zum Verschwinden bringen. Sogar wenn der Täter selbst Gewerkschaftsmitglied ist.
Menna lebt mit ihrem Sohn, ihrer Tochter und ihrem Ehemann in einem sogenannten duar von Ait Aimera. Einem ärmlichen Viertel, das hauptsächlich von Erntehelfern bewohnt wird. Weil ihr Mann ihr verboten hat, mit Journalisten zu sprechen, wurde ihr Name geändert. „Ich habe auf einer Farm gearbeitet, auf der ich von einem Gewerkschaftsangestellten sexuell belästigt wurde“, sagt sie.
Menna spricht langsam, während sie sich an den Übergriff erinnert. Ihr jugendlicher Sohn beobachtet die Szene aufmerksam, versteckt hinter einem Vorhang.
Plötzlich klingelt das Telefon, es ist ihr Ehemann, der sie, vom Sohn alarmiert, auffordert, das Gespräch zu beenden. Er droht die Polizei zu rufen, wenn die Reporter das Material nicht löschen.
In den Familien bleibt sexuelle Gewalt auch in Marokko ein Tabuthema.
Redaktion: Frederik Richter | Gestaltung: Benjamin Schubert
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