Das TV-Duell: Wo irrt Merkel, wo irrt Schulz?
96 Minuten lang beantworteten Angela Merkel und Martin Schulz am Sonntagabend die Fragen von vier Journalisten. Nicht immer waren sie sich einig. Und nicht immer sind sie bei der vollen Wahrheit geblieben.
Asylbearbeitung
Asylverfahrensdauer: 2 Monate?
„Wir haben inzwischen Asylverfahren, die, oder Genehmigungsverfahren für den Aufenthalt, die dauern für die, die nach dem 1. Januar 2017 gekommen sind, nur noch zwei Monate. Da ist Unglaubliches geleistet worden. […] Das heißt also, im Jahre 2017 sind die Bearbeitungsfristen auf zwei Monate gesunken.“
Die Asyl-Verfahren dauerten nur noch zwei Monate, behauptete Angela Merkel (CDU) im TV-Duell. Das stimmt so nicht. Die Bearbeitungszeit wird sogar immer länger. Im zweiten Quartal 2017 benötigte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchschnittlich 11,7 Monate, bis ein Antrag entschieden wurde. Im ersten Quartal lag der Schnitt noch bei 10,4 Monaten, im gesamten Jahr 2016 bei 7,1 Monaten. Das ging laut einem Bericht der Funke Mediengruppe aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor.
Der Bund hatte sich im September 2015 dazu verpflichtet, die Asylverfahren trotz steigender Antragszahlen auf drei Monate zu verkürzen. Bereits im Juni hatte die Präsidentin des BAMF, Jutta Cordt, mitgeteilt, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer gestiegen sei und noch zunehme. Grund dafür seien schwierige Altfälle. Für neu gestellte Asylanträge betrage die Zeit bis zu einer Entscheidung hingegen nur noch 1,4 Monate.
Fazit: Merkels Aussage bezieht sich also nur auf die Verfahren, die im Januar gestellt und bereits bearbeitet wurden. Nicht erfasst sind die Anträge, die noch nicht abgeschlossen wurden.
Hunderttausende nicht mehr bearbeitete Altfälle
Martin Schulz (SPD) sagte : „Wir müssen übrigens auch sehen, dass es Hunderttausende nicht mehr bearbeitete Altfälle beim Bundesamt für Migration gibt.“
Doch von „hunderttausend“ Altfälle zu reden, ist übertrieben. Am 12. August 2017 teilte das BAMF mit, dass Ende Juli 2017 nur noch 129.467 Verfahren offen waren, davon 81.432 sogenannte Altverfahren aus 2016 und früher. Zum Vergleich: zu Beginn des Jahres waren es noch rund 434.000 Verfahren.
Fazit: Schulz’ Schätzung ist übertrieben. Die bloße Zahl sagt aber nichts aus über die Schwierigkeit der zu bearbeitenden Fälle.
Stellenabbau im BAMF?
Während des Duells warf die SPD auf Twitter dem Bundesinnenminister Thomas de Maizière vor, Stellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgebaut zu haben. Stimmt das?
Es stimmt. Am 18. Juli 2017 erwähnte die BAMF-Chefin Jutta Cordt im Heute-Journal den Personalabbau in ihrem Amt. Im Jahr 2015 arbeiteten nur 2.000 Menschen im BAMF. Diese Zahl wurde mit dem Wachstum von Asylbewerbungen auf mehr als 10.000 Vollzeitstellen Im Herbst 2016 aufgestockt. Da viele von den neuen Mitarbeitern befristete Verträge hatten, sinkt diese Zahl: Im Juni 2017 arbeiteten nur 7.791 Personen und laut des BAMF, sollte die Flüchtlingsbehörde nur noch etwas mehr als 7.000 Mitarbeiter am Ende des Jahres zählen. Das entspricht einen Personalabbau von 30 Prozent im Vergleich mit Herbst 2016.
Auf Anfrage vom Heute-Journal antwortete das Bundesinnenministerium, dass so viel Personal wie im Herbst 2016 angesichts sinkender Flüchtlingszahlen nicht mehr erforderlich ist.
Von der Maut zur Rente
„Beim letzten Mal war es die Maut“, zweifelte SPD-Kandidat Martin Schulz die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin beim Thema Rente an. Mit ihr werde es die Pkw-Maut nicht geben, hatte Angela Merkel vor vier Jahren im TV-Duell gesagt. Problem ist nur: Zum 1. Juli 2018 wird die Autobahngebühr für Pkw in Deutschland erhoben. So will es die CSU. Merkel erinnerte deshalb am Sonntagabend an ihr gegebenes zusätzliches Versprechen von vor vier Jahren. Kein deutscher Autofahrer werde mehr belastet.
Stimmt. Aber nicht ganz. Deutsche Autofahrer können nicht direkt von der Maut ausgenommen, das verstößt gegen das Ausländer-Diskriminierungsverbot im EU-Recht. Der Trick: Die deutschen Autofahrer sollen über die KfZ-Steuer entlastet. Zumindest Fahrer alter Fahrzeuge mit hohem Kohlendioxid-Ausstoß könnten aber mehr bezahlen. Zweifel gibt es zudem an der Rechnung von Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), die Maut werde im Jahr rund 500 Millionen Euro einspielen. Der ADAC zweifelt an den Zahlen. Laut einer Studie des Vekehrswissenschaftlers Ralf Ratzenberger für den Automobilklub seien von ausländischen Fahrern lediglich jährliche Maut-Einnahmen in Höhe von 262 Millionen Euro zu erwarten, dem stünden Kosten von rund 300 Millionen Euro gegenüber.
Und die Rente? Laut CDU-Wahlprogramm gilt: „Die Weiterentwicklung der Rente nach 2030 soll in einem partei- und fraktionsübergreifenden gesellschaftlichen Konsens unter Einbeziehung der Tarifpartner geregelt werden.“ Eine Kommission soll bis Ende 2019 Vorschläge erarbeiten.
Das deckt sich mit den derzeitigen gesetzlichen Regelungen, das Renteneintrittsalter bis 2031 schrittweise auf 67 Jahre anzuheben. Finanzstaatssekretär Jens Spahn, CDU, hat sich angesichts der steigenden Lebenserwartung für die Zeit danach für ein weiteres gestaffeltes Anheben bis 69 ausgesprochen. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Carsten Linnemann, der Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung, haben sich generell für ein Rentenalter von 70 Jahren ausgesprochen.
Fazit: Die Debatte wird kommen. Spätestens nach 2019. Das ist früher als Angela Merkel lieb sein kann.
Türkei – EU Beitritt
„Wenn ich Kanzler bin, werde ich die Beitrittsverhandlungen mit der EU abbrechen“, sagte SPD-Herausforderer Martin Schulz und überraschte die Kanzlerin. „Die Beitrittsverhandlungen sind im Moment sowieso nicht existent“, sagte Merkel. Das stimmt. Derzeit ruhen die Gespräche mit der Türkei. Von den 35 Kapiteln der Beitrittsgespräche sind ohnehin nur 15 geöffnet, heikle Themen wie Justiz- und Menschenrechte (Kapitel 22 und 23) sind ohnehin ausgespart. Nur ein Kapitel (Wissenschaft und Forschung) ist abgeschlossen. Von den für die Jahre 2014 bis 2020 zugesagten 4,5 Milliarden Euro Beitrittshilfen für die Türkei sind rund 200 Millionen Euro ausbezahlt.
Hintergrund: Die Türkei hat 1987 die Aufnahme in die EU offiziell beantragt, 1999 wurde dem Staat offiziel der Status eines „beitrittswilligen Landes“ zuerkannt. 2005 wurden die Gespräche offiziell aufgenommen. Merkels Position war zweigeteilt. Als Kanzlerin billigte sie die Beitrittsgespräche, als CDU-Vorsitzende lehnte sie diese ab. Eine Position die durch die ablehnende Haltung von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy erleichtert wurde. Erst im Zuge der Flüchtlingsdebatte mit der Türkei änderte sich der zurückhaltend Kurs. Im März 2016 vereinbarte die EU mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal, der Visa-Erleichterungen für türkische Bürger bei ihren Reisen in die EU vorsah und die Eröffnung neuer Kapitel vorsah. Der autoritäre Kurs des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten Putschversuch im August 2016 änderte die Lage. De facto ruhen die Beitrittsgespräche. Das Europaparlament hatte im Juli 2017 für ein offizielles Aussetzen der Verhandlungen gestimmt. Parallel wird über ein Abbruch der Gespräche über die Zollunion zwischen Türkei und EU debattiert. Seit 1995 sind rund 90 Prozent der Waren und Güter beim Handel mit der Türkei von Abgaben befreit.
Fazit: Deutschland kann die Frage nicht allein entscheiden, sondern braucht die Zustimmung der EU-Partner. Und so zeigte sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Montag distanziert. Er sprach von einer rein „theoretischen Frage“. „Die Gespräche mit der Türkei ruhen ohnehin.“
Martin Schulz über die Kriminalitätsrate
„Für Sicherheit und Ordnung“ – mit diesem Slogan wirbt die CDU im Bundestagswahlkampf. „Innere Sicherheit“ ist eines der Lieblingsthemen der Christdemokraten. Kein Wunder also das SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz beim TV-Duell Merkel damit aus der Reserve zu locken versuchte als er fragte: „Kennen Sie das Flächenland in Deutschland, das 2016 die höchste Kriminalitätsrate hatte?“
Die Antwort lieferte der Polizistensohn Schulz direkt mit: „Sachsen-Anhalt! Ist CDU-regiert seit 20 Jahren.“
Stimmt das? Ja, schaut man sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik nur die Flächenländer an, dann war Sachsen-Anhalt 2016 das Bundesland mit der höchsten Kriminalitätsrate. Bezieht man allerdings die Stadtstaaten noch mit ein, liegen Bremen, Berlin und Hamburg deutlich vor Sachsen-Anhalt – und sie werden derzeit alle von der SPD regiert. Schulz Aussage ist also grundsätzlich richtig, wenn er auch etwas die Tatsachen dafür verdreht.
Der zweite Teil seiner Aussage, Sachsen-Anhalt sei seit 20 Jahren CDU-regiert, stimmt allerdings nicht. Von 1994 bis 2002 gab es in Sachsen-Anhalt eine SPD-Regierung unter Reinhard Höppner. Es sind also 15 und nicht 20 Jahre in denen die CDU in Sachsen-Anhalt regiert.
Diesel-Skandal oder die Musterfeststellungsklage
Können deutsche Dieselfahrer nach dem Abgas-Skandal mit Entschädigungen rechnen? Im TV-Duell hakte Moderator Peter Kloeppel bei Kanzlerin Angela Merkel nach und nannte als Beispiel die Entschädigungen für die VW-Besitzer in den USA.
Merkel verwies auf das in Deutschland abweichende Haftungs- und Gewährleistungsrecht. Demnach müssen die Autohersteller lediglich dafür Sorge tragen, ein Auto wie in den Zulassungsunterlagen vorgesehen, an den Käufern auszuliefern. Aktuell geschehe das mit den für Autobesitzer kostenfreien Software-Umrüstungen.
Autofahrer die Schadensersatz wollen, etwa weil das eigene Dieselfahrzeug nunmehr unverkäuflich ist, müssen ihr Recht einklagen. Diesen Schritt haben in Deutschland bisher jedoch nur wenige Autobesitzer gewählt. Sie fürchten einen langen Rechtsstreit und hohe Kosten. Sammelklagen, wie sie etwa in den USA üblich sind, sind nach deutschem Recht bisher nicht möglich. Ein Gesetzentwurf zur Einführung einer Musterfeststellungsklage, angelehnt an das seit 2005 existierende Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG), wurde von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) im Juli 2017 vorgelegt. Passiert ist seither aber nichts. Martin Schulz machte dafür die Union verantwortlich.
Rechtsanwalt Remo Klinger erklärt, dass in Deutschland bisher nur etwa 10 000 Autofahrer Klage in der Diesel-Affäre eingereicht hätten. Weil die Schadenersatzansprüche zum Jahresende verjähren, sei „Eile geboten“, sagt Klinger. Der Jura-Professor der Hochschule Eberswalde berät unter anderem die Deutsche Umwelthilfe (DUH).
Eine Musterfestellungsklage erlaubt es einem registrierten Verband, etwa der Verbraucherzentrale oder der DUH, einen Präzendenzfall zu schaffen und den betroffenen Pkw-Besitzern ihre Ersatzansprüche zu sichern Klinger kritisiert daher die Verschleppungstaktik der Union. „Wenn das Gesetz zum Musterfestellungsverfahren erst am 2. Januar in Kraft tritt, ist es zu spät“, sagte er Correctiv.
Das Interesse am Diesel-Gate scheint übrigens immens, nach dem der Begriff im TV-Duell genannt wurde, schnellte der Begriff „Musterfeststellungsklage“ bei Google nach oben.
Fazit: Die Union versucht die Debatte zu verschleppen – auch zum Nachteil der Besitzer von Diesel-Wagen.
Wie viel verdient eine Krankenschwester in einer Minute?
Martin Schulz sagt in seinem Schlusswort beim TV-Duell, eine Krankenschwester verdiene in einer Minute weniger als 40 Cent, ein Manager eines Großunternehmens dagegen mehr als 30 Euro pro Minute. Wir haben nachgerechnet.
Um die Unterschiede bei Ferien und Feiertagen zwischen verschiedenen Bundesländern auszugleichen, rechnen wir mit durchschnittlich 250 Arbeitstagen im Jahr 2017. Stellvertretend für DAX-Vorstände wählen wir Joe Kaeser, Vorstandsvorsitzender von Siemens. Er liegt mit einem Jahresverdienst von 8,416 Millionen Euro im Mittelfeld der zehn Top-Verdiener der DAX-Vorstände. In seiner Gesamtvergütung sind erfolgsabhängige Boni enthalten. Nimmt man eine 60-Stunden-Woche des Managers (Durchschnittswert deutscher Manager laut Brand Eins Magazin) an, die sich auf fünf Tage verteilt, so errechnet sich ein Minutengehalt von 46,76 Euro. Demgegenüber steht das Minutengehalt einer Krankenschwester in Höhe von 34 Cent. Das gilt für eine tarifliche 38,5-Stunden-Woche und einen Monatsbruttolohn von 3168,10 Euro für Bedienstete, die länger als zehn Jahre im öffentlichen Dienst beschäftigt sind.
Fazit: Die Grundaussage von Martin Schulz zu den unterschiedlichen Einkommenswelten von Managern und Krankenschwestern stimmt also. Je nach Bundesland und Berufsalter verdienen Krankenschwestern jedoch deutlich weniger beziehungsweise Top-Manager verdienen deutlich mehr.