Hintergrund

Das TV-Duell von Timmermans und Weber im Faktencheck

Klimawandel, Migration, Wirtschaft – im TV-Duell im ZDF wollten die EU-Spitzenkandidaten bei allen großen Wahlkampfthemen ihre Positionen klar machen. Nicht immer stimmten die Fakten. CORRECTIV.Faktencheck hat sieben Aussagen geprüft.

von Tania Röttger , Cristina Helberg , Till Eckert , Hüdaverdi Güngör , Alice Echtermann , Annika Joeres

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Manfred Weber und Frans Timmermans vor dem TV-Duell im ZDF-Studio in Berlin am 16. Mai 2019. (Foto: JOHN MACDOUGALL / AFP)

Die beiden Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissions-Präsidenten, Frans Timmermans von der Sozialdemokratischen Partei Europas und Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei, stellten sich am 16. Mai im ZDF den Fragen von Journalisten. Sieben ihrer Aussagen im Faktencheck:

Sind die Zahlen ankommender flüchtender Menschen in Europa um 90 Prozent zurückgegangen?

Frans Timmermans reagierte auf die Frage, ob man guten Gewissens auf Außenkontrollen des Schengenraums verzichten könne, mit: „Können wir nicht einmal auf die Zahlen schauen? Die Zahlen sind ja schon 90 Prozent niedriger als vor drei Jahren.“ Timmermans meinte damit offenbar die Zahl der flüchtenden Menschen, die in Europa ankommen (Minute 00:50). Unsere italienischen Faktencheck-Kollegen von Pagella Politica haben diese Zahl bezugnehmend auf eine Aussage von Sebastian Kurz bereits gestern überprüft.

Anhand der Daten einer Plattform des UN-Flüchtlingskommissars berechneten sie, dass die Zahl im jährlichen Vergleich im Zeitraum von 2015 bis 2018 um 86 Prozent zurückging. Im Vergleich der ersten vier Monate von 2015 mit denen von 2019 ist die Zahl sogar um 66 Prozent gesunken. Timmermans war demnach zwar nah dran, äußerte sich aber inakkurat.

Sterben seit dem EU-Abkommen mit der Türkei keine Flüchtlinge mehr in der türkischen Mittelmeerregion?  

Timmermans und Weber versuchten beide, das am 18. März 2016 beschlossene Abkommen zwischen der Türkei und der europäischen Union für sich und ihre Parteien zu beanspruchen. Ziel des Abkommens war, die Anzahl der Flüchtlinge in die europäische Union zu verringern. Weber wies darauf hin, er finde es richtig, was Bundeskanzlerin Angela Merkel gemacht habe. Im Konter ging Frans Timmermans weiter: „Zur Türkei, ich hab’ das persönlich verhandelt. Ich stehe dafür, ich stehe dahinter, ich hab’ das gemacht, denn es hat auch dazu geführt, dass die Leute nicht mehr im Mittelmeer sterben in dieser Region.“

Die Aussage ist falsch. Es sind mehrere Fälle bekannt, in denen Boote mit Flüchtlingen bei dem Versuch, aus der Türkei nach Griechenland zu kommen, gekentert sind. Laut der International Organisation for Migration, die der UN angehört, starben seit Januar 2017 mindestens 141 Menschen bei dem Versuch, Griechenland und Zypern über das Mittelmeer zu erreichen.

Gibt es keine gemeinsamen Sicherheitsstandards für Atommeiler in Europa?

Weber sagte im TV-Duell: „Im Bereich der Atomenergie (…) müssen wir uns zumindest darauf verständigen, dass wir gemeinsame Sicherheitsstandards definieren. Die Atommeiler, die an der österreichischen Grenze stehen im Osten und im Westen, die an der französischen Grenze stehen für die Deutschen, werden betrieben nach jeweils nationalem Recht.“

Das ist größtenteils richtig. Die Europäische Union hat mit Euratom seit 1957 eine „europäische Atomgemeinschaft“. Laut Euratom beobachtet die Behörde Atomkraftwerke und kann Inspektoren entsenden. Sie hat außerdem Normen für zulässige Belastungen mit radioaktiver Strahlung festgelegt. Spezifische technische Sicherheitsanforderungen, zum Beispiel an die Laufdauer eines Atomkraftwerks, stellt sie aber nicht.

Auch die grundlegenden Richtlinien für Atomkraftwerke liegen in der Hand der jeweiligen EU-Staaten. Und selbst innerhalb eines Landes sind die Standards nicht einheitlich: Die Betreiber der sieben noch laufenden Atomkraftwerke in Deutschland müssen vor dem jeweiligen Umweltministerium ihres Bundeslandes Rechenschaft ablegen. „Für die Überwachung der Sicherheit und der Sicherung von Kernkraftwerken sind die Länder zuständig“, heißt es beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.

Trifft eine CO2-Steuer vor allem ärmere Menschen?

Beim Thema Klimaschutz und der Frage, wie CO2-Emissionen reduziert werden sollten, sagte Manfred Weber, er lehne eine CO2-Steuer ab. „Die Gelben Westen in Frankreich sind auf die Straße gegangen, weil die Benzinpreise erhöht wurden. Eine CO2-Steuer bedeutet höhere Spritpreise und höhere Heizungspreise für zu Hause. Ich will ambitioniert sein im Klimaschutz, aber ich will nicht, dass die Rentner, die Pendler im ländlichen Raum und die Ärmsten der Gesellschaft die Leidtragenden sind“, sagte Weber (ab Minute 12:20).

Für diese Aussage gibt es keine Belege, da eine CO2-Steuer ganz unterschiedlich gestaltet werden kann. Was stimmt: Eine CO2-Steuer würde zu einem Anstieg der Preise für Energie führen. Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds wären die Auswirkungen auf die Spritpreise in Deutschland aber eher gering (vier Prozent Preissteigerung bei einem Preis von 35 Dollar pro Tonne CO2). Das liegt auch daran, dass Kraftstoff in Deutschland bereits besteuert wird. Laut Martin Pehnt, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg, würde eine CO2-Steuer von 40 Euro pro Tonne CO2 den durchschnittlichen Gaspreis für Verbraucher um 13 Prozent steigern, den Ölpreis um 15 Prozent.

Experten wie Christoph Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) oder Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sind der Ansicht, dass die Besteuerung von CO2 durchaus überproportional Einkommensschwache belasten könnte. Diese Menschen könnten bestimmte Aktivitäten wie das Heizen ihrer Wohnung nicht vermeiden, sagt Schmidt. Allerdings sei es möglich, einen sozialen Ausgleich einzurichten.

Tatsächlich betonten alle Befürworter von SPD, Grünen oder Linken in Deutschland bei ihren Plänen stets, die Steuer müsse gesellschaftlich akzeptiert sein. Meist wird ein Modell wie in der Schweiz ins Gespräch gebracht, wo die Einnahmen aus der nationalen CO2-Abgabe zu zwei Drittel den Bürgern und der Wirtschaft zurückgezahlt werden. Die Fraktion der Linken fordert zusätzliche eine Abschaffung der Stromsteuer. Und auch die Expertin Claudia Kemfert befürwortet, die bestehenden Stromsteuern zu senken, um die Belastung für kleine Haushalte auszugleichen.

Wie genau die mögliche CO2-Steuer gestaltet werden wird, ist aktuell aber Spekulation.  

Hat Starbucks in einem Jahr 800 Millionen Euro Umsatz in Österreich gemacht, aber nur 800 Euro Steuern gezahlt?

Faire Besteuerung von internationalen Großkonzernen ist ein großes Thema im EU-Wahlkampf. Frans Timmermans gab dazu in diesem TV-Duell bereits zum zweiten Mal eine Anekdote über Starbucks zum Besten. „Der Andi Schieder hat in Österreich mal nachgeschaut, was zum Beispiel Starbucks bezahlt hat“, sagte er. Der Konzern habe in einem Jahr einen Umsatz von über 800 Millionen Euro gemacht und dabei nur 800 Euro Steuer gezahlt. Und eine Kneipe in der Gegend um Wien habe in dem Jahr 8000 Euro Steuern gezahlt.

Diese Aussage ist teilweise falsch. Auf Nachfrage von CORRECTIV teilte die SPÖ, die Partei des von Timmermans zitierten Andreas Schieder mit, es müsse eine Verwechslung vorliegen. Schieder habe von 18 Millionen oder genauer gesagt 17,6 Millionen Euro Umsatz gesprochen. Den Rest in Bezug auf die Steuerzahlungen habe Timmermans jedoch korrekt wiedergegeben. Die SPÖ bezieht sich für diese Zahlen auf die Jahresbilanz 2017 von Starbucks im Firmenbuch. CORRECTIV konnte das Dokument einsehen; es bestätigt die Angaben zu Umsatz und Steuerzahlungen. Das Unternehmen verzeichnet allerdings für das Geschäftsjahr auch, insgesamt Verluste gemacht zu haben. 

Gelten in Finnland, Schweden und Dänemark Mindestlöhne?

Manfred Weber sagte im TV-Duell: „Es gibt sechs Länder in der europäischen Union, die keinen Mindestlohn haben (…) drei davon sind Finnland, Schweden und Dänemark.“ Frans Timmermans wandte daraufhin ein: „In diesen skandinavischen Ländern gibt’s tatsächlich einen Mindestlohn für alle Sektoren. Warum? Weil die Gewerkschaften eine starke Position haben, das vermitteln zu können.“

Richtig ist: Es gibt aktuell in sechs Ländern der Europäischen Union keinen Mindestlohn: Dänemark, Italien, Zypern, Österreich, Finnland und Schweden. Zu tariflichen Mindestlöhnen schreibt Eurostat: „In Dänemark, Italien, Österreich, Finnland und Schweden sowie in Island, Norwegen und der Schweiz werden in bestimmten Branchen Mindestlöhne im Rahmen von Tarifverträgen festgelegt.“

  • Für Finnland schreibt die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland für Außenwirtschaft und Standortmarketing in einem Paper von Januar 2019 zur Vergütung: „Grundsätzlich freie Vereinbarungen möglich; in den meisten Branchen allerdings tarifvertraglich Mindestlöhne vorgesehen.“
  • Für Schweden schreibt die Leiterin der Rechtsabteilung der deutsch-schwedische Handelskammer, Kerstin Kamp-Wigforss, auf eine CORRECTIV-Presseanfrage: „Es gibt keinen gesetzlichen Mindestlohn, aber tarifliche Mindestlöhne. Circa 90 Prozent der Arbeitsverhältnisse (öffentliche und private) in Schweden sind aber auf die eine oder Weise durch einen Tarifvertrag geregelt und für diese gelten daher in den meisten Fällen tarifliche Mindestlöhne.“
  • In Dänemark sind laut dänischer Botschaft in Deutschland 80 Prozent aller Arbeitnehmer „Mitglied einer Gewerkschaft und unterliegen deshalb den Bestimmungen eines Tarifvertrages“.

Tarifliche Mindestlöhne gelten in Finnland, Schweden und Dänemark demnach für den Großteil der Arbeitnehmer, nicht jedoch für alle.

Bekommen Asylbewerber in Ungarn kein Essen mehr?

Während der Diskussion, wie die EU mit Mitgliedstaaten umgehen solle, die sich nicht an EU-Richtlinien halten, sagte Frans Timmermans: „Der Orbán geht so weit mit seinen christlichen Werten, dass er Asylanten sogar kein Essen mehr gibt. So weit geht das schon.“ Das stimmt teilweise.

Seit August 2018 hat die Organisation Hungarian Helsinki Committee in 13 Fällen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen, weil Asylbewerbern in ungarischen Transitzonen kein Essen gegeben wurde. Die Fälle betrafen insgesamt 21 Personen im Zeitraum vom 10. August 2018 bis zum 5. April 2019. CORRECTIV konnte die Gerichtsentscheidungen einsehen. 

Die Praxis betraf Menschen, die kein Asyl erhalten hatten, weil sie über Serbien nach Ungarn gekommen waren. Das Hungarian Helsinki Committee gibt Asylbewerbern kostenlosen Rechtsbeistand. Es sind bestimmte Asylbewerber, die kein Essen mehr bekommen: Männer und Frauen, die älter als 18 und nicht schwanger waren oder stillten, sagte András Léderer vom Hungarian Helsinki Committee. Kinder und Schwangere erhalten demnach auch nach abgelehntem Asylbescheid weiterhin Essen. Ebenso wie solche, denen Ungarn Asyl gewährt.

Die ungarische Regierung sieht sich im Recht. Auf einer ihrer Webseiten schreibt sie am 3. Mai, Ungarn sei „weder für diejenigen verantwortlich, die keinen Asylantrag gestellt haben, noch für diejenigen, deren Antrag abgelehnt wurde.“ Die Vereinten Nationen (UN) sehen das anscheinend anders. In einer Pressekonferenz am 3. Mai thematisierte eine UN-Sprecherin die Berichte aus Ungarn, die sie „alarmierend“ nannte. Sie erinnerte daran, dass Staaten verpflichtet sind, Menschen, die sich in Gewahrsam befinden, mit Essen zu versorgen.

Update, 17. Mai, 20:05 Uhr:
Kurz nach Veröffentlichung konnten wir den Jahresabschlussbericht von Starbucks Österreich aus dem Geschäftsjahr 1. Oktober 2016 bis 30. September 2017 einsehen. Wir haben diesen Punkt dementsprechend aktualisiert.