Hintergrund

Im Netz der Corona-Gegner

Ungültige Atteste gegen die Maskenpflicht und ein vertrauliches Treffen mit Sachsens Ministerpräsident Kretschmer: Eine Recherche von CORRECTIV zeigt, wie ein bundesweites Netzwerk von Wissenschaftlern, Meinungsmachern und Anwälten versucht, die Corona-Maßnahmen zu untergraben.

von Till Eckert , Matthias Bau , Alice Echtermann

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(Grafik: Benjamin Schubert / CORRECTIV)

Das Attest kommt per E-Mail. „Aus schwerwiegenden Gründen von der Gesichtsmaskenpflicht befreit“, steht darauf. Dass es so leicht werden würde, hatten wir nicht gedacht. 

Zuvor hatten wir eine kurze Korrespondenz mit einem Berliner Heilpraktiker. Wir schrieben ihm über eine private E-Mailadresse, wir würden „nach all dem, was man so lesen kann, einfach nicht an die Wirkung“ der Maske glauben. Dass sie uns „im Gegenteil sogar schaden“ könnte. Kurz darauf schrieb der Heilpraktiker zurück: „Gerne helfen wir weiter.“ 

Wir schickten ihm auf Anfrage eine vollständige Anschrift. Wenige Stunden später: Unser Masken-Attest, mit Unterschrift. Dazu die Bitte um eine Spende für die „Ärzte für Aufklärung“, „Querdenken711“ oder „andere Vereine, die die Sache unterstützen“.

Bitte helfen Sie mit, diesen Wahnsinn zu beenden und zeigen Gesicht! – aus der E-Mail eines Berliner Heilpraktikers

Die Sache, das ist die Ablehnung der Regierungsmaßnahmen gegen das Coronavirus. Vorangetrieben wird sie von Scheinexperten und Meinungsmachern, die die Pandemie verharmlosen, teilweise sogar leugnen. Maßgeblich beteiligt sind aber auch Menschen mit medizinischem oder wissenschaftlichem Hintergrund, Professoren und Doktoren aus verschiedensten Fachbereichen, sowie Anwälte. 

Nach Recherchen von CORRECTIV haben sich die Corona-Gegner in den vergangenen Monaten ein bundesweites Netzwerk aufgebaut. Es wirkt inzwischen auch direkt auf Politiker ein: Eine Gruppe prominenter Corona-Relativierer traf sich mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Unter ihnen sind Mitglieder eines Vereins aus Passau, der unter anderem Kontakte für fragwürdige Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht vermittelt. Der Vorsitzende: Bestseller-Autor Sucharit Bhakdi. 

Wir zeigen, wer die wichtigsten Köpfe der Bewegung sind – und wie sie den Kampf gegen das Coronavirus torpedieren. Denn spätestens seit der großen Demonstration am 1. August in Berlin ist klar: Dieses Netzwerk ist in der Lage, Zehntausende hinter sich zu vereinen. 

Verein aus Passau vermittelt Kontakte für Masken-Atteste

Die Anti-Corona-Bewegung hat ihren Ursprung dort, wo viele während der Corona-Pandemie Zuflucht fanden: im Internet. Auf Webseiten, Blogs und vor allem Youtube-Kanälen entstehen seit Monaten die Inhalte und Theorien, die Menschen vor den Bildschirmen tausendfach konsumieren. Und auf die Straße treiben.

Wir fanden unseren Berliner Heilpraktiker über die Webseite der „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie“ (MWGFD e.V) mit Sitz im bayerischen Passau. Der Verein ist nach eigenen Angaben als gemeinnützig anerkannt. Er stellt online mehr als 35 Kontakte zu Ärzten und Heilpraktikern in ganz Deutschland bereit, an die man sich wenden könne, wenn man ein Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht brauche. 

Die Mitglieder des Vereins haben sich nach eigenen Angaben wegen gemeinsamer Kritik an den „überzogenen Beschränkungen“ zusammengefunden. Vorsitzender ist Sucharit Bhakdi, dessen Buch „Corona Fehlalarm?“ seit Wochen in den deutschen Bestseller-Listen rangiert. Geschrieben hat er es gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin Karina Reiss. Bhakdi ist der ehemalige Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Universitätsmedizin Mainz. Er fiel während der Pandemie mehrfach mit Spekulationen und unbelegten Behauptungen zum Virus auf und trat in viralen Youtube-Videos in Erscheinung. So ließ er sich beispielsweise vom bekannten Verschwörungsideologen Ken Jebsen interviewen und richtete einen offenen Brief an Angela Merkel

In einem „Aufruf an alle ärztlichen Kolleginnen und Kollegen“ (PDF) behaupten Bhakdi und seine Mitstreiter, es gebe derzeit „keine echten Covid-19-Neuinfektionen im Bundesgebiet“ mehr. Die Maskenpflicht wird in dem Schreiben als „besonders belastend und gesundheitsgefährdend“ bezeichnet. Angeblich entstünden zahlreiche Beschwerden durch die „vermehrte Rückatmung von CO2“ – eine Behauptung, die nach Aussagen von Experten falsch ist. 

Der Vorsitzende des Vereins MWGFD e.V., Mikrobiologe und Bestseller-Autor Sucharit Bhakdi (links), in einem Interview mit dem Verschwörungsideologen Ken Jebsen im April. (Quelle: Youtube / Screenshot: CORRECTIV)

Richtig ist: Masken können, je nach Art, tatsächlich die Atmung behindern. In Berlin sind zum Beispiel Gehörlose oder Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen von der Maskenpflicht befreit. Atteste können laut der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit jedoch nur von einem Arzt ausgestellt werden. „Hebammen, Heilpraktiker etc. sind keine Ärzte, damit sind die Atteste nicht gültig. Atteste ohne Arztbesuch sind in der Regel ebenfalls nicht zulässig“, schrieb uns ein Sprecher per E-Mail. 

Nach Recherchen von CORRECTIV sind gleich mehrere der Personen auf der Liste von MWGFD e.V. keine Ärzte, einige sind im Ausland tätig. 

Auf der Webseite des Vereins heißt es, das Attest über die Befreiung von der Maskenpflicht erfolge aufgrund „medizinischer Gesichtspunkte“. Diese würden „Ärzte aller Fachrichtungen oder Psychotherapeuten eigenverantwortlich“ beurteilen. Man solle einen Termin mit solchen vereinbaren. Nur: Unser Attest haben wir innerhalb weniger Stunden per E-Mail erhalten, ohne ein persönliches Gespräch geführt oder einen Termin gemacht zu haben, oder auch nur gesundheitliche Beschwerden schildern zu müssen. 

Zudem steht die Gültigkeit des Attests in Frage: Der Heilpraktiker war laut Behörden nicht befugt, es auszustellen. Der Text auf dem Attest entspricht dem Formulierungsvorschlag, den MWGFD e.V. in seinem Aufruf an die Ärzte gleich mitgeliefert hat.

Unser Masken-Attest haben wir per E-Mail erhalten, ohne dass medizinische Gründe nachgewiesen wurden. Gesendet wurde es mit der Bitte, für andere Vereine zu spenden, die „die Sache“ unterstützen. (Quelle: CORRECTIV)

Laut Berliner Senat für Gesundheit haften Ärzte für die Richtigkeit der ausgestellten Atteste. Das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherung nach Paragraf 278 des Strafgesetzbuchs steht dabei unter Strafe. Bei Verstoß droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. 

Auf Anfrage teilte uns die Ärztekammer Berlin mit, auch wenn das ungültige Attest nicht bei einer Behörde vorgelegt werde, sondern zum Beispiel nur beim Frisör, begehe der Patient damit eine Ordnungswidrigkeit – und der Arzt verletze seine berufliche Pflicht. Die Ärztekammer gehe aktuell mehreren Anzeigen wegen sogenannter Gefälligkeitsatteste nach. Für die Ärzte könne das Ganze berufsrechtliche Konsequenzen haben.

Wissen Sucharit Bhakdi und die Ärzte, die Mitglied in seinem Verein sind, dass sich auf ihrer Liste Personen befinden, die nicht befugt sind, Atteste auszustellen? Der Vorsitzende des Vereins ließ diese und weitere Fragen unbeantwortet. Auch der Berliner Heilpraktiker aus der Liste des Vereins antwortete bis zur Veröffentlichung nicht auf unsere Fragen, als wir uns im Nachhinein als Journalisten zu erkennen gaben.

Zahlreiche Mitglieder des Vereins erlangten während der Pandemie Bekanntheit

Neben Sucharit Bhakdi versammeln sich im Verein MWGFD e.V. weitere prominente Corona-Relativierer. Darunter der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Arzt Wolfgang Wodarg, der Mitunterzeichner des Attest-Aufrufs ist. Er gehörte im März zu den ersten „Youtube-Doktoren“, die fragwürdige Positionen und unbelegte Theorien zum Coronavirus verbreiteten. Die Klickzahlen auf Youtube dokumentieren seinen Erfolg. Zuletzt deutete Wodarg an, der PCR-Test für SARS-CoV-2 könnte auf Rinder-Coronaviren positiv reagieren – was laut Experten nicht möglich ist

Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg, der in Youtube-Interviews irreführende Behauptungen über die sogenannte R-Zahl verbreitete und auf Demonstrationen in Stuttgart gegen die Maßnahmen der Regierung wetterte, fungiert als Kassenwart bei MWGFD e.V. Der Immunologe Stefan Hockertz, der schon früh die populäre Behauptung vertrat, das Coronavirus sei nicht gefährlicher als die Grippe, ist ebenfalls mit an Bord.

Wolfgang Wodarg in einem Interview mit dem Youtube-Kanal „Punkt.Preradovic“ im März. (Screenshot: CORRECTIV)

Gemeinsam ist den Mitgliedern des Vereins eines: Sie halten die Pandemie für ungefährlich, die Maßnahmen gegen sie für falsch – und sie möchten möglichst viele Menschen von dieser Sichtweise überzeugen. 

Dazu zählen auch Politikerinnen und Politiker. 

Ministerpräsident Michael Kretschmer traf Verantwortliche des Vereins

Wie erfolgreich diese Bemühungen um Einflussnahme bisher sind, ist unklar. Doch erst kürzlich traf sich Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zum vertraulichen Gespräch mit einigen Verantwortlichen des Vereins. 

In Dresden fand ein „wissenschaftlicher Runder Tisch“ statt, initiiert vom Bildhauer Michael Grasemann. Neben Bhakdi und Homburg sei auch Kretschmer eingeladen gewesen, heißt es in einem Youtube-Video vom 7. August. Die einzige Tonaufnahme des Gesprächs sei bei der Sächsischen Staatskanzlei verblieben. „Warum, darauf blieb der MP eine Antwort schuldig“, steht im Text zum Video.  

Die Staatskanzlei Sachsen bestätigte CORRECTIV auf Nachfrage, Kretschmer habe die Einladung zum Gespräch angenommen, „da er grundsätzlich mit allen Menschen spricht, die an einem sachlichen Austausch und ernsthaften Diskussionen interessiert sind“. Die Wissenschaftler hätten „eine dezidiert kritische Haltung zu den Corona-Schutzmaßnahmen“, schreibt uns ein Sprecher. Das Gespräch habe zweieinhalb Stunden gedauert, über den Inhalt sei aber Stillschweigen vereinbart worden. 

„Sachliches und positives Klima“

Wessen Wunsch dieses Stillschweigen war, konnten wir nicht klären. In dem Text zum Youtube-Video des Runden Tisches liest es sich, als habe der Ministerpräsident darauf bestanden, die einzige Tonaufnahme zu behalten. Sein Sprecher schrieb uns, die Aufnahme existiere, er könne aber zum konkreten Inhalt des Gesprächs keine Auskunft erteilen, weil Kretschmer sich an die Vereinbarung gebunden fühle, die vor dem Gespräch getroffen worden sei. 

Immerhin: Das Gespräch habe in einem „sehr sachlichen und positiven Klima“ stattgefunden und „war geprägt vom wissenschaftlichen Disput der Experten“. Der Sprecher betonte zudem in seiner E-Mail, Deutschland habe die Krise bisher gut gemeistert, die Maßnahmen seien also erfolgreich gewesen „wenngleich eine kritische Auseinandersetzung mit den Entscheidungen selbstverständlich legitim ist“. Fakt sei: Das Coronavirus sei noch da, „hoch ansteckend“ und „für einen nennenswerten Teil der Infizierten tödlich“.

Den Attest-Aufruf an die Ärzte veröffentlichte der Verein MWGFD e.V. am 6. Juni. In einer Bundespressekonferenz Anfang August sprach ein Reporter von RT Deutsch das Treffen Bhakdis mit Kretschmer an, behauptete, es sei am 26. Juni gewesen und Kretschmer habe dort laut Teilnehmern „ein baldiges Ende der Maskenpflicht“ angekündigt. 

Auf eine weitere Nachfrage, weshalb Kretschmer mit Menschen diskutiere, die Kontakte für zweifelhafte Atteste gegen die Maskenpflicht vermitteln und unwissenschaftliche Theorien im Internet verbreiten – und inwiefern dieses „sachlich und in positivem Klima“ verlief – antwortete uns der Sprecher bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht. Auch ob Kretschmer dort mögliche Zusagen, etwa für einen anderen Umgang mit der Maskenpflicht oder ähnliches in Aussicht gestellt habe, ließ der Sprecher offen. 

Eine telefonische Nachfrage zum genauen Termin des Treffens kommentierte der Sprecher mit: „Auch hierzu möchten wir uns nicht äußern.“

Ein bundesweites Netzwerk von „Gleichgesinnten“

Mitglieder eines Corona-Gegner-Vereins treffen einen Ministerpräsidenten zum Austausch hinter verschlossenen Türen – ihre Bestrebungen zur politischen Einflussnahme sind also nicht zu unterschätzen. 

Angeblich sollen Spenden von mehreren Zehntausend Euro beim Verein eingehen, darunter auch eine Einzelspende in Höhe von 25.000 Euro. Das sagte zumindest Kassenwart Homburg in einem Interview. Woher das Geld stammt und wofür es konkret verwendet wurde, lässt der gemeinnützige MWGFD e.V. auf Anfrage offen. 

Eine der Hauptaktivitäten des Vereins ist jedoch das Netzwerken. In seiner Satzung (PDF) gibt er an, ein „möglichst großes Netzwerk von Gleichgesinnten über das ganze Bundesgebiet“ knüpfen zu wollen. 

Nach Recherchen von CORRECTIV existiert dieses Netzwerk bereits. So gibt es ausgehend von MWGFD e.V. mehrere personelle Überschneidungen zu anderen zentralen Organisationen der Corona-Gegner-Szene.

Da ist zum Beispiel Heiko Schöning. Er gibt an, Arzt in Hamburg zu sein. In Erscheinung getreten ist er in der Vergangenheit auch als Unternehmer. 2013 ging er laut Medienberichten mit seinem Gesundheitsdienstleister „Onkocom“ Pleite. 2015 stellte er bei der Vox-Sendung „Höhle der Löwen“ einen Notfallkühler vor, der Patienten im Falle eines Herzstillstands retten soll. Nach eigenen Aussagen organisierte er 2017 außerdem das laut Medienberichten rechts-esoterische Festival „Pax Terra Musica“.

Schöning ist neben seiner Mitgliedschaft in dem  Verein aus Passau auch einer der Köpfe hinter den sogenannten „Ärzten für Aufklärung“, die laut Report Mainz ebenfalls Gefälligkeitsatteste gegen die Maskenpflicht vermitteln. Sie haben sich nach eigenen Angaben im April zusammengefunden und mittlerweile mehr als 2.000 Unterstützer gesammelt. Die Organisation bittet im Netz um Spenden.

Drei der Köpfe hinter den sogenannten „Ärzten für Aufklärung“: Heiko Schöning (mitte), Olav Müller-Liebenau (links) und Walter Weber (rechts). (Screenshot: CORRECTIV)

Schönings Mitstreiter sind die Ärzte Olav Müller-Liebenau und Marc Fiddike, die sich der Homöopathie und Naturheilverfahren verschrieben haben. Außerdem dabei: Der Internist Walter Weber, der im Jahr 2000 für Schlagzeilen sorgte, als er einer 66-Jährigen „wegen ihrer Furcht vor Menschen schwarzer Hautfarbe“ eine „Angsterkrankung“ bescheinigt habe. 

Die vier sind nach Recherchen von CORRECTIV zudem verantwortlich für den „Außerparlamentarischen Corona-Untersuchungsausschuss“ (ACU), dessen Ziel offenbar ein Präsenz-Untersuchungsausschuss ist, für den „Sachverständige und Zeugen“ gesucht werden. Auch hier wird um Spenden geworben.

Schöning aus Hamburg fungiert mit zwei weiteren Männern als Sprecher des ACU: Martin Haditsch, ein Facharzt für Tropenmedizin, und Bodo Schiffmann, der in Sinsheim eine Klinik für Schwindelkrankheiten („Schwindelambulanz“) und einen erfolgreichen Youtube-Kanal betreibt.

Schiffmann ist eine der umtriebigsten Figuren im Netzwerk der Corona-Gegner: Er ist ein politischer Motor der Bewegung, pflegt mehrere Kontakte in die angeschlossene Youtube-Szene und tritt in Deutschland und der Schweiz als Redner auf Demonstrationen der Initiative „Querdenken711“ auf.

Bodo Schiffmann ist ein Mann, der die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie mit dem Ermächtigungsgesetz vergleicht, auf dem Adolf Hitler 1933 seine Diktatur aufbaute. Er sagt außerdem Dinge wie: „Ich träume immer noch davon, morgens wach zu werden und zu sehen, wie Bill Gates nach Guantanamo gefahren wird zur Vernehmung.“ Schiffmann fürchtet, dass wir in Zukunft in einer „faschistoiden Gesundheitsdiktatur“ leben könnten.

Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer faschistoiden Gesundheitsdiktatur aufwachen – Bodo Schiffmann, Arzt und Parteigründer aus Sinsheim

Wohl beflügelt vom Erfolg seines Youtube-Kanals, auf dem er emotionalisierende Ansprachen hält oder die Zahlen des Robert-Koch-Instituts interpretiert, gründete er Anfang April zunächst die Partei „Widerstand2020“ mit. Das Ziel: Die nächste Bundestagswahl. Wenig später trat Schiffmann jedoch wieder aus, offenbar wegen Meinungsverschiedenheiten mit den anderen Gründern. Im Juli dann gründete er die Partei „Wir2020“. Aber auch hier trat Schiffmann nach eigenen Angaben Mitte August vom Vorstandsposten zurück und kündigte eine „Politikpause“ an. 

Anwälte gegen die „massiven Rechtsverletzungen“ der Regierung 

Zwei von Schiffmanns „Widerstand2020“-Mitgründern, die Anwälte Ralf Ludwig und Kirsten König, kümmern sich im Netzwerk der Corona-Relativierer gemeinsam mit Markus Haintz um die juristischen Belange: Als „Anwälte für Aufklärung“ wollen sie gegen die angeblich „massiven Rechtsverletzungen“ der Regierung vorgehen.

Bürger werden von ihnen etwa an den gemeinnützigen Leipziger Verein „Klagepaten“ vermittelt, der helfen soll, „einen Anspruch an Schadensersatz gegenüber dem Staat geltend zu machen“, sofern ein solcher durch die Corona-Maßnahmen entstanden sei. Man werde dort von der Antragstellung bis hin zu einer Klage vor Gericht begleitet. Im Impressum ist Ludwig als Verantwortlicher angegeben – rechts oben auf der Webseite findet sich ein roter „Spenden“-Button. Auch der Berliner Heilpraktiker hat unseren Reporter in der E-Mail mit dem Attest auf diesen Verein hingewiesen, falls es „zu Schwierigkeiten kommt“. 

Ludwig und König sind zusammen mit dem Ulmer Bauanwalt Markus Haintz außerdem Administratoren der erfolgreichen Facebook-Gruppe „Coronapandemie fällt heute aus“, die auch vom Kopf der „Querdenken“-Bewegung, Michael Ballweg, mitbetreut wird. Sie hat inzwischen mehr als 36.000 Mitglieder und spielte eine zentrale Rolle bei der Organisation der großen Demonstration am 1. August – dazu später mehr.

Markus Haintz, selbst Teil der Initiative „Querdenken711“ und Gründer von Querdenken Ulm, tritt seit Monaten offensiv im Netz und auf Demonstrationen auf. In einem Interview mit dem russischen Auslandssender RT Deutsch sagte er zu den Corona-Maßnahmen, sie seien „faktisch Kindesmisshandlung“. 

Haintz ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Personen im Netzwerk das Internet nutzen: Sie sind oft über mehrere Plattformen und Kanäle hinweg aktiv, werden zu Interviews geladen oder laden selbst dazu ein und bewerben aktiv Gleichgesinnte. 

Youtube-Kanäle sind ein wichtiger Reichweitenmotor für die Köpfe des Netzwerks

So sind die wohl wichtigsten Mitglieder des Corona-Gegner-Netzwerks – neben den Ärzten, Professoren und Anwälten als Stichwortgebern – die Youtuber der Szene. Sie verschaffen den fragwürdigen Theorien und Positionen Reichweite, machen die einzelnen Personen bekannt und profitieren selbst von der Aufmerksamkeit. So tragen sie maßgeblich zur Vernetzungsdynamik der Szene bei.

Populär sind zum Beispiel die Youtube-Kanäle der Verschwörungsideologen Ken Jebsen, Heiko Schrang und Oliver Janich, die passend zu ihren Theorien immer wieder Mitglieder der Szene zu Interviews laden. Vor der Corona-Pandemie war Heiko Schrang vor allem gut vernetzt unter Rechtspopulisten.

Ein Interviewgast bei Schrang und Janich war etwa Samuel Eckert. Eckert ist ein IT-Unternehmer in der Schweiz, der selbst seit Wochen Youtube-Videos mit irreführenden oder falschen Behauptungen zum Coronavirus produziert. Er nahm außerdem einen knapp sechsstündigen Livestream zur Demo am 1. August in Berlin auf.

Oliver Janich (links) und Heiko Schrang (rechts) im Interview mit Gast Samuel Eckert (Mitte). (Screenshot: CORRECTIV)

Eine undurchsichtige Rolle spielt ein weiterer, sehr aktiver Youtube-Kanal: „GD-TV“ aus Schwäbisch Gmünd. Mittlerweile ist er eine der zentralen Plattformen für die Inhalte der „Querdenken“-Bewegung; die Betreiber sind jedoch unbekannt. Der Kanal verbreitete zum Beispiel ein virales Video des Ulmer Studenten Sebastian Götz mit dem Titel „Die Zerstörung des Corona-Hypes“. Im Abspann dankt Götz „Alex von GD-TV“. 

Bei solchen Youtube-Kanälen bekommen viele der bereits beschriebenen Personen eine Plattform. Auch Michael Ballweg ist dort ein gern gesehener Gast. Er bringt den Protest vom Netz auf die Straße.

„Querdenken711“ holt die Corona-Gegner-Szene auf die Straße

Eine große Demonstration am 1. August in Berlin, die „Tag der Freiheit“ getauft worden war, brachte fast alle Akteure und Initiativen des Netzwerks zusammen: Bodo Schiffmann, Heiko Schöning und die Youtuber Heiko Schrang, Samuel Eckert und Sebastian Götz, sie alle waren dort als Redner angemeldet. 

Initiiert wurde der Protest von der Partei „Widerstand2020“ und der Initiative „Querdenken711“ aus Stuttgart. Für die Mobilisierung nutzten sie die Facebook-Gruppe „Coronapandemie fällt heute aus“ als eine zentrale Plattform. 

Verantwortlich für „Querdenken711“ ist Michael Ballweg, ein IT-Unternehmer, der Verschwörungsmythen nicht abgeneigt zu sein scheint. So spielte er am 1. August in seiner Rede auf „Q-Anon“ an, einen vor allem in den USA verbreiteten Mythos von einer allwissenden Macht im Hintergrund. Ballweg möchte laut eigenen Aussagen Bürgermeister von Stuttgart werden.

Laut Medienberichten gab es bei der Demo Verstöße gegen Hygienemaßnahmen und aggressives Verhalten gegen Journalisten – die Polizei löste die zentrale Kundgebung am Brandenburger Tor auf, zahlreiche Politiker zeigten sich anschließend verständnislos. 

Das Geschehen vom 1. August sollte offenbar noch einmal getoppt werden: Für den 29. August planten die Corona-Gegner eine Demo mit internationaler Beteiligung. So sollen etwa Aktivisten aus Italien eine Einladung nach Berlin angenommen haben. In einem Interview sagte Ballweg, er habe 14 Tage für eine Art Protestcamp eingeplant. Man wolle die Straße des 17. Juni für die gesamte Dauer des Protestes blockieren. 

Die Demo wurde jedoch am 26. August von der Berliner Versammlungsbehörde verboten, unter anderem weil es bei der ersten Demonstration Auflagenverstöße gegeben habe. „Ich bin nicht bereit ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird“, sagte Berlins Innensenator Andreas Geisel außerdem. 

Tatsächlich hatten im Vorfeld vermehrt Rechtsextreme zur Demonstration aufgerufen. So sollte bereits am Freitag der rechtsextreme Rapper Chris Ares auftreten. Götz Kubitschek, der als Vordenker der Neuen Rechten gilt, rief zur Demo auf. Auch der Kopf der rechtsextremen sogenannten „Identitären Bewegung“, Martin Sellner, mobilisierte über die Messenger-Plattform Telegram. Die NPD Sachsen mobilisierte auf Twitter

Auch mehrere AfD-Politiker schlossen sich dem Aufruf an, zum Beispiel der Bundestagsabgeordnete Tino Chrupalla. Ob und in welcher Form die Demonstration stattfindet, ist jedoch offen. Einige riefen unter dem Hashtag #SturmaufBerlin in Sozialen Netzwerken dazu auf, trotz des Verbots zu erscheinen. Berlins Innensenator Geisel kündigte „ein konsequentes Vorgehen der Polizei“ an, sollten sich große Menschenansammlungen bilden. 

In der E-Mail mit dem Attest hatte auch der Berliner Heilpraktiker unseren Reporter aufgefordert, zur Demonstration am 29. August zu erscheinen. „Wir machen weiter und wir werden immer mehr!“ schrieb er.

Genau das muss sich noch zeigen. Denn das Netzwerk ist in Teilen auch eine Echokammer – es redet vor allem mit sich selbst.

Mitarbeit: Benjamin Schubert (Grafiken), Belén Ríos Falcón (Grafiken), Frederik Richter (Redigatur)

Update, 1. September: In der Einleitung hatten wir geschrieben, das Treffen mit Michael Kretschmer sei Anfang August gewesen. Dies haben wir korrigiert; der genaue Termin ist unklar, mutmaßlich fand das Treffen jedoch früher statt. 

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