Pallywood? Fotos eines syrischen Mädchens werden seit Jahren für Desinformation missbraucht
Seit Jahren werden Aufnahmen eines Mädchens bei einer Rettungsaktion für Falschbehauptungen missbraucht. Aktuell im Nahen Osten, um das Pallywood-Narrativ zu nähren. Wir erklären, was dahintersteckt.
Drei Bilder zeigen dasselbe mit Staub bedeckte Mädchen. Weil es auf jedem Bild von einer anderen Person getragen wird, stellen einige die Echtheit der Aufnahmen in Frage. Im Kontext des aktuellen Kriegs im Nahen Osten schreibt ein Nutzer am 24. Oktober 2023 auf X beispielsweise: „Pallywood ist wieder dabei, neue Fake-Tote und verletzte Kinder Videos zu drehen. Siehe Bild, dasselbe Mädchen ist in mindestens 3 Hamas Pallywood Produktionen zu sehen.“ Beiträge wie dieser auf X, Telegram und Tiktok suggerieren, das Mädchen sei von der Terrororganisation Hamas als palästinensisches Opfer inszeniert worden. Einen solchen X-Beitrag hat auch das Onlinemedium Nius, ein Projekt des Ex-Bild-Chefs Julian Reichelt, in einem Artikel vom 27. Oktober 2023 scheinbar ungeprüft übernommen.
„Pallywood“ ist eine Zusammensetzung aus „Palästina“ und „Hollywood“ und wird in Sozialen Netzwerken im Zusammenhang mit Bildern und Videos genutzt, um den Menschen im Gazastreifen beziehungsweise der Terrororganisation Hamas Propaganda und die Inszenierung von Verletzungen und Folgen im Zuge des Kriegs im Nahen Osten zu unterstellen. Zahlreiche dieser Behauptungen haben sich als falsch herausgestellt, wie wir zum Beispiel hier, hier und hier berichteten.
Fest steht: Während der Terrorangriffe der Hamas am 7. Oktober sind nach Angaben der israelischen Regierung rund 1.200 Menschen getötet und mehr als hundert entführt worden. Israel startete daraufhin Gegenangriffe und eine Bodenoffensive auf den von der Hamas regierten Gazasteifen. Laut Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums wurden dabei bisher mehr als 16.000 Menschen getötet. Unabhängig prüfen lassen sich diese Zahlen derzeit nicht, aber laut Berichten der Nachrichtenagenturen AFP, Associated Press und Reuters, die sich auf israelische Beamte berufen, geht die israelische Regierung von etwa derselben Zahl aus.
Bilder zeigen eine Rettungsaktion nach einem Bombenangriff in Syrien im August 2016
Und was hat es mit den drei Bildern des Mädchens auf sich? Eine Bilderrückwärtssuche zeigt schnell: Die drei Bilder des Mädchens kursieren schon seit Jahren im Netz. Sie zeigen keine Inszenierung in Gaza, sondern ein Mädchen in Syrien – bei einer Rettungsaktion im August 2016. Wir haben recherchiert, wie die Aufnahmen seitdem für Desinformation missbraucht wurden und ob sie tatsächlich, wie behauptet, von der Hamas für Propaganda-Zwecke verbreitet wurden.
Wie die Faktencheck-Redaktion der AFP bereits 2018 berichtete, sind die drei Bilder in der Fotodatenbank der französischen Nachrichtenagentur einsehbar. Der Fotograf Ameer al-Halbi schoss alle Fotos am selben Tag, dem 27. August 2016, im Stadtteil Maadi im Osten Aleppos in Syrien.
Truppen des Assad-Regimes warfen an dem Tag zwei Fassbomben aus der Luft auf eine Trauerfeier ab, wobei nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mehrere Menschen getötet wurden. Das Mädchen wurde bei der Rettung offensichtlich von verschiedenen Helfern weitergereicht, wie eines der AFP-Fotos von al-Halbi zeigt. Auch ein Fotograf von Reuters war damals vor Ort und fotografierte das Mädchen.
Bilder des Mädchens werden verbreitet, um „Crisis Actor“- und Pallywood-Narrative zu stützen
Nur wenige Wochen nach dem Aufnahmedatum am 27. August 2016 wurde fälschlicherweise behauptet, die drei Bilder zeigten, dass die Hilfsorganisation „Weißhelme“ Rettungsaktionen und Opfer in Syrien inszeniert. Zwei Jahre später verbreitete sich dieselbe Falschbehauptung erneut. Unter anderem teilte die Collage der für pro-russische Propaganda bekannte Blog Anti-Spiegel. Auch in den Jahren danach kursierte das Bild mit der Falschbehauptung immer wieder.
Dahinter steckt die Erzählung: Die Opfer seien in Wahrheit Schauspieler, sogenannte „Crisis Actors“ (deutsch: Krisenschauspieler). Aktuell wird das Narrativ im Zuge des Nahen Ostens unter dem Begriff „Pallywood“ verbreitet, der bereits in der Vergangenheit genutzt wurde. Beiträge mit den drei Bildern des Mädchens sind ein Beispiel dafür. Nicht nur im deutschprachigen Raum, sondern auch international hat die Verwendung des Begriffs laut einer Analyse der irischen Faktencheck-Redaktion Logically Facts seit dem Terrorangriff der Hamas zugenommen. Er verbreitet sich derzeit nicht nur in Sozialen Netzwerken, auch deutsche Medien haben über das Pallywood-Narrativ berichtet und damit teils Falschbehauptungen verbreitet.
Ähnliche Falschbehauptungen werden zum Beispiel auch immer wieder im Kontext des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verbreitet. Aber auch Überlebenden von Amokläufen an Schulen in den USA wird aus verschwörungsgläubigen Kreisen unterstellt, sie seien „Crisis Actors“ und die Tragödien hätten nie stattgefunden.
Keine Hinweise, dass Hamas-Kanäle die veralteten Bilder des Mädchens für Propaganda einsetzt
Doch war es, wie behauptet, die Terrororganisation Hamas, die die Bilder des Mädchens für Propaganda-Zwecke ins Netz stellte? Eine nicht-öffentliche Beta-Version des Google Fact Check Explorers zeigt an, wann Beiträge oder Webseiten mit einem bestimmten Bild das erste Mal indexiert wurden, sprich wann sie also zum ersten Mal von der Suchmaschine gespeichert wurden.
Bilder-Rückwärtssuchen mit dem Tool zeigen, dass die Bilder nach den Attacken der Hamas am 7. Oktober, zum Großteil zusammen in einer Collage verbreitet wurden. Beiträge, die eines der Bilder einzeln verbreiteten und dieses als eine aktuelle Aufnahme aus Gaza ausgaben, fanden wir kaum – Beiträge von Accounts, die eine Verbindung zur Hamas haben könnten, fanden wir nicht.
Auch über Bilder-Rückwärtssuchen auf Google, Yandex und Bing fanden wir keine Beiträge, die die Bilder einzeln verbreiteten und das Mädchen als palästinensisches Opfer israelischer Angriffe ausgaben. Mehrere reichweitenstarke Telegram-Kanäle, die eine Verbindung zu der Hamas vermuten lassen, teilten zwar dutzende Aufnahmen von getöteten und verletzten Kindern, die Bilder des syrischen Mädchens waren aber nicht darunter.
Alle Faktenchecks zu Falschmeldungen und Gerüchten zum Krieg im Nahen Osten finden Sie hier.
Redigatur: Kimberly Nicolaus, Uschi Jonas