Richter Johannes Hidding ist wütend über die mangelnde Vorbereitung des Gutachters der Verteidigung

Vor der Richterbank ist es heute ungewöhnlich voll. Die vier Sachverständigen samt Mitarbeitern sitzen sich direkt gegenüber. Siegfried Giess und Christoph Luchte auf der Seite der Staatsanwaltschaft. Fritz Sörgel und Henning Blume neben Stadtmanns Anwälten. CORRECTIV berichtet aus dem Gerichtssaal.

Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?

Am Morgen wirkt Peter Stadtmann gelöst und unterhält sich angeregt mit seinen Anwälten. Doch im Laufe des Tages wird er immer ruhiger und wirkt teilnahmslos.

Welchen Eindruck machen die Betroffenen?

Für die Betroffenen und alle anderen Prozessbeteiligten ist es ein zäher Tag. Es geht um pharmazeutische Details, die für Laien nicht immer verständlich sind. Trotzdem bleiben viele Nebenkläger bis zum Ende der Verhandlung gegen 19 Uhr.

Die wichtigsten Ereignisse des Tages:

  • Gutachter Sörgel in Erklärungsnot. Die Aussage des Pharmakologen Fritz Sörgel war von allen Prozessbeteiligten mit Spannung erwartet worden. Schließlich gilt Sörgel vom Institut für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg als Koryphäe. Doch schnell wird klar, der von der Verteidigung beauftragte Experte kann kaum eine Frage beantworten. Immer wieder gerät er in Erklärungsnot. Auf Nachfrage muss Sörgel einräumen, dass sein Institut keine Erfahrung mit der Analyse monoklonaler Antikörper hat. Für Sörgel ist das jedoch irrelevant. „Es ging bei der Überprüfung der Unterlagen ja darum, ob die Methoden nach Vorschrift durchgeführt wurden." Doch Sörgel hat die von LZG und PEI nachgelieferten Rohdaten, insgesamt 24 Ordner, selbst gar nicht durchgearbeitet, sondern seine Kollegin Martina Kinzig. „Sie können von mir nicht verlangen, dass ich jede Zahl überprüfe, das machen Laborleute”, so Sörgel. Generelle Einschätzungen zu den Dokumenten gibt er aber ab. „Das Paul-Ehrlich-Institut hat einen exzellenten Ruf", sagt Fritz Sörgel auf Nachfrage des Richters. „Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass die Methoden geeignet sind. Trotzdem stellt sich die Frage, ob sie in der Anwendung wie vorgeschrieben durchgeführt und dokumentiert wurden.” DIe Nebenklage will konkrete Aussagen. „Haben das PEI und das LZG etwas falsch gemacht?", fragt der Nebenklage Anwalt Andreas Schulz den Sachverständigen Sörgel. „Meine Bewertung kann erst erfolgen, wenn ich den Gesamtkomplex sehen kann", antwortet Sörgel. Denn bisher habe man nur zehn Prozent des gesamten notwendigen Untersuchungsmaterials gesichtet. Mit Untersuchungsmaterial sind nicht nur die bereits nachgelieferten Materialien gemeint, sondern alle weiteren Dokumente, die das LZG und das PEI dazu haben müssten. Auf Nachfrage der Verteidigung sagt Sörgel, in Laboren komme es vor allem zu einfachen Fehlern, deshalb sei die lückenlose Dokumentation so wichtig. Als Beispiel nennt er Verdünnungen. Die Verteidigung versucht diese Antwort in ihrem Sinne zu nutzen und fragt, ob solche Fehler auch in Apotheken bei der Zubereitung von Medikamenten passieren könnten. „Ja, natürlich! Wenn es eine bundesweite Untersuchung von in Apotheken hergestellten Zytostatika gäbe, würde diese wahrscheinlich erschreckende Ergebnisse liefern", sagt Sörgel. Er fordert „Konsequenzen aus diesem Fall". Vielen seiner Kollegen sei nicht bewusst gewesen, dass in Deutschland Krebstherapien in diesem Ausmaß in privaten Apotheken hergestellt werden. „Das ist ein perverses System, dass Krebstherapien teilweise durch die Republik geschickt werden. Zum Beispiel von München nach Hamburg."

  • Schlafender Gutachter. Fritz Sörgel präsentiert sich vor Gericht über weite Strecken als desinteressierter Gutachter. In seiner Vernehmung bleibt er bei wagen Aussagen und verweist immer wieder auf seine Kollegin. Als später am Richtertisch die von seiner Kollegin monierten Mängel in den Originalunterlagen von Sachverständigen und Anwälten begutachtet und besprochen werden, bleibt Sörgel als einziger Sachverständiger einfach auf seinem Platz sitzen. Während der Verhandlung schließt er immer wieder die Augen und scheint zu schlafen. Am späten Nachmittag dreht Sörgel dann nochmal auf und führt umständlich aus, was an dem Gutachten des PEI zu bemängeln sei. Er greift den Sachverständigen Giess direkt an. Sein Gutachten sei eine „Zettelsammlung” und habe „den Charakter einer Bachelorarbeit”. Giess bleibt gelassen. Staatsanwaltschaft und Nebenklage intervenieren. Denn: Zu dieser Zeit hat Fritz Sörgel gar kein Aussagerecht mehr und darf lediglich Fragen an den Sachverständigen Giess stellen. Die Nebenklage beanstandet deshalb seine Ausführungen, die keine Fragen seien. Der Staatsanwalt Rudolf Jakubowski ist sich in diesem Punkt selten einig mit der Nebenklage: „Herr Sörgel hat hier heute quasi sein Gutachten verweigert, weil er keine Aussagen gemacht hat und jetzt wird er wach und will doch noch etwas sagen.” Sörgel verzichtet nach einer Belehrung des Richters auf weitere Fragen an Giess.

  • Bekam Sörgel ein Honorar von der Verteidigung? Der Nebenklage-Anwalt Khubaib-Ali Mohammed will von Sörgel wissen, wie viel Geld er für die Gutachtertätigkeit von Stadtmanns Anwälten bekam. Vergeblich versucht die Verteidigung die Frage zu verhindern. "Ich habe bis heute keinen Cent in Rechnung gestellt. Ich mache das aus Interesse. Irgendwann werde ich wahrscheinlich eine gewisse Aufwandsentschädigung in Rechnung stellen", sagt Sörgel.  

  • Seltsame Allianz: Sörgel und die Amtsapothekerin. In seinen Ausführungen verweist Sörgel auch auf die Berichterstattung über „eine Zeugin, die hier vor Gericht ausgesagt hat, dass es keine Methoden zur Untersuchung von monoklonalen Antikörpern gibt." Damit meint Sörgel offenbar die Amtsapothekerin Hanneline Lochte, die am 17. Verhandlungstag vor dem Essener Landgericht ausgesagt hatte. Sie bestritt vor Gericht, dass es möglich gewesen sei Krebstherapien aus der alten Apotheke auf ihren Wirkstoffgehalt zu überprüfen. „Ich habe nirgendwo Zyto-Proben gezogen, weil die nicht untersucht werden konnten. Es gab kein Labor, dass diese Proben in Deutschland hätte untersuchen können", sagte sie. Dabei wurden im Rahmen des Projektes ZYTOK bereits 2012 in ganz NRW Wirkstoffgehalte von Zytostatika überprüft. Auch der Sachverständige Siegfried Giess weist die Aussage der Amtsapothekerin auf Nachfrage der Nebenklage noch einmal deutlich zurück. „Die Proteinbestimmungsmethode, die für die Proben relevant ist, gibt es schon seit 20, 30 Jahren", sagt Giess.

  • Chemikerin bemängelt PEI Unterlagen. Martina Kinzig wird vom Richter in den Zeugenstand gerufen, weil Sörgel sich immer wieder auf sie bezogen hat, wenn er Detailfragen nicht beantworten konnte. Kinzig ist Chemikerin und Laborleiterin an Sörgels Institut. An insgesamt drei Tagen im Februar und März 2018 hat sie die Rohdaten des LZG und PEI vor Ort in Essen gesichtet. Sie sagt, die vorgelegten Unterlagen seien nicht geeignet, die Messergebnisse nachvollziehbar zu machen. Detailliert berichtet sie über von ihr festgestellte Mängel in den Rohdaten des PEI. Laut ihrer Liste fehlen: SOP's, Nachweise über die Kalibrierung, Verifizierung und Wartung der eingesetzten Geräte, Ausbildungsnachweise der Mitarbeiter, die fortlaufende Dokumentation der sichergestellten Proben, die Dokumentation der Temperaturen der Kühlschränke, in denen die Proben gelagert wurden, und Angaben zum Qualitätsmanagementsystems. Später bemängelt sie Details wie fehlende Datumsangaben, Uhrzeiten, Unterschriften, falsche Probebezeichnungen, fehlerhaft beschriftete Grafiken, einzelne fehlende Daten, wie Temperaturangaben, und Korrekturen per Überschreibung. Alles Mängel, die sie als „leicht bis mittelschwer" einstuft. Martina Kinzig vermisst außerdem ein sogenanntes „Non conformance corrective action report" in den Unterlagen des PEI. Darin würden Fehler und Regelverstöße im Labor dokumentiert. Der Richter bittet Martina Kinzig um eine Einschätzung, wie groß die Mängel insgesamt sind. Sie sagt über die Dokumente des PEI: „Fünfzig Prozent der gefundenen Mängel sind schwerwiegend. Bei einer Inspektion einer Zulassungsbehörde würde man bei so einem Anteil eine Zulassung ablehnen. Die Mängel wirken sich auf die Glaubhaftigkeit der Ergebnisse aus.” Der Sachverständige vom PEI Giess widerspricht diesem Befund. „In allen Fällen sind das keine Punkte, die die Analytik beeinflussen würden”, sagt er.  

  • Ist Kinzig als Sachverständige geeignet? Auf Nachfrage der Nebenklage muss Kinzig jedoch einräumen, dass sie keinerlei Erfahrung als Sachverständige für Qualitätssicherung hat, weder in einem anderen Strafprozess, noch allgemein. Selbst habe sie noch nie eine Wirkstoffbestimmung von monoklonalen Antikörpern durchgeführt. Auch habe sie zuvor noch nie die Dokumentation einer solchen Untersuchung inspiziert. Auch die Gutachten des LZG und des PEI kenne sie nur teilweise, da diese nicht Teil der bei Gericht einzusehenden Rohdaten gewesen seien. Und auch die vorliegenden Rohdaten habe sie innerhalb der drei Tage, die sie in Essen war, nicht komplett durcharbeiten können. Von den vier Ordnern des PEI habe sie nur drei durchgearbeitet. „Ich habe vorne, in der Mitte und hinten Seiten gelesen, aber nicht alle. Den vierten Ordner habe ich zum Beispiel gar nicht angeschaut", sagt Kinzig. „Wenn Sachverständige präsentiert werden, gehe ich persönlich davon aus, dass sie die Unterlagen vollständig kennen", sagt der Vorsitzende Richter. In Richtung der Verteidigung fügt er hinzu: „Die Unterlagen liegen schon seit Dezember vor. Man hätte sie schon längst ansehen können. Aber sie sind nie von jemandem angefordert worden." Später platzt dem Richter der Kragen. Als die Verteidigung Kinzig fragt, ob sie die Ergebnisse ohne die fehlenden Unterlagen verifizieren könne, antwortet sie: „Nein". Stadtmanns Rechtsanwalt Strüwe wiederholt die Antwort der Zeugin mit dem Zusatz: „Nein, warum auch immer." Daraufhin unterbricht ihn der Richter: „Die Antwort der Zeugin war nur „Nein". Bevor ich gleich echt sauer werde. Sie fordern Unterlagen an, dann fehlen anscheinend Unterlagen und davon wird uns nichts gesagt. Und jetzt wird die präsentierende Sachverständige hier von Ihnen gefragt, ob sie ohne fehlende Unterlagen ausschließen könne, dass Fehler passiert seien."

  • Umgedrehtes Argument stellt auch Gutachten in Frage. Der Nebenklage Anwalt Andreas Schulz dreht das Argument der Chemikerin Martina Kinzig um: „Frau Kinzig sie haben gesagt: Wenn die Daten nicht vollständig sind, gibt es auch keine Validierung. Das wäre dann ja auch auf Ihre Auswertung anzuwenden, denn sie haben ja nicht alle Dokumente angeschaut." Kinzig verteidigt sich. Sie habe alle ihre festgestellten Mängel genau dokumentiert.

  • Stellt ein fehlendes Datum die Analysen in Frage? Der Staatsanwalt will an einem Beispiel deutlich machen, dass die Bedeutung der Mängel keine Auswirkung auf die Ergebnisse der Analysen habe. In einem Dokument war laut Kinzig eine Probe fälschlicherweise als im Jahr 2013 beschlagnahmt ausgewiesen worden. Der Staatsanwalt weist daraufhin, dass ja offensichtlich sei, dass die Razzia 2016 stattgefunden habe. Der Fehler sei deshalb leicht zu berichtigen. Der Staatsanwalt will wissen, wie die Chemikerin darauf komme, dass nur aufgrund eines offensichtlich falschen Datums, das Ergebnis der Untersuchung falsch sei. Kinzig: „Wenn ein falsches Datum durchgeht, heißt das, eine Qualitätssicherung hat nicht stattgefunden. Wenn also so ein banaler Fehler durchgeht, ist die ganze Datenlage in Frage gestellt."

  • PEI-Sachverständiger kontert. Souverän tritt Siegfried Giess vom PEI in den Zeugenstand und pariert fast alle von Sörgel und Kinzig vorgebrachten Mängel. Er bemerkt, dass nahezu alle genannten Unterlagen vorliegen, aber vom Gericht lediglich die Rohdaten angefordert worden seien. Dazu zählten nicht die SOP’s. „Wir haben ein Qualitätssicherungssystem, dass europaweit angewandt wird. Die SOP's fehlen, weil sie nicht angefordert wurden. Das ist alles vorrätig. Allein die Dokumentation im engeren Zusammenhang wären sicher dreißig bis vierzig Dokumente. Wenn sie die brauchen, können wir die gerne nachliefern", sagt Giess zum Richter. Seite für Seite geht der Richter anschließend die von Martina Kinzig benannten Mängel durch. Sachverständige und Anwälte versammeln sich um den Richtertisch und sichten die Dokumente. Giess kann fast alle Mängel entkräften. Besonders lange geht es um von Martina Kinzig bemängelte Überschreibungen. Damit gemeint sind Fehler, die korrigiert wurden. Kinzig hatte bemängelt, dass die ursprünglichen Fehler durch die Korrekturen, also Überschreibungen, nicht mehr sichtbar seien. Das sei so nicht in Ordnung, weil dann Fehler nicht nachvollziehbar seien und Manipulationen ermöglicht würden. Bei der Durchsicht der Dokumente am Richtertisch sagt Giess, die Korrekturen seien vermutlich von Mitarbeitern vorgenommen worden, weil die eingetragenen Zahlen nicht deutlich erkennbar gewesen seien. „Aus meiner Sicht kein No-Go, sondern korrigierte Zahlen", so Giess. Der Richter fragt, ob korrigierte Zahlen nicht eher belegen würden, dass nochmal jemand drüber geschaut habe. Zu den von Sörgel und Kinzig vorgebrachten Mängeln insgesamt sagt Siegfried Giess: „Wenn an den Analysen irgendetwas falsch gelaufen wäre, würden wir das entweder bei Kontrollen oder am Ergebnis sehen.”

  • Richter recherchiert. Richter Hidding sagt, dass das Gericht Informationen über angebliche Warenlieferungen von der Pharmafirma Orifarm und dem Münchner Apotheker eingeholt habe. Die Verteidigung hatte behauptet, dass von dort Zyto-Lieferungen an die Alte Apotheke gegangen seien, die nicht verbucht wurden. Was das Gericht herausgefunden hat, sagt Richter Hidding nicht.

  • Gegenseitige Ablehnung der Gutachten. Verteidigung und Nebenklage widersprechen der Verwendung des jeweiligen Gutachtens der Gegenseite. Die Begründungen dazu folgen am nächsten Verhandlungstag.

  • Gericht holt zweites psychiatrisches Gutachten ein. Das Gericht hat den Psychiater Boris Schiffer mit einem psychiatrischen Gutachten zu Peter Stadtmann beauftragt. Das Gutachten ist vermutlich Anfang Mai fertig, so der Richter.

Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:

Der nächste Verhandlungstag ist am 3. April. Welches Beweisprogramm dann ansteht, ist noch unklar. Die Aussage der Sachverständigen muss an einem der nächsten Prozesstage fortgesetzt werden, wann steht noch nicht fest.

Die nächsten Verhandlungstage im Überblick (Beginn jeweils 09:30 Uhr): 03.04., 06.04., 03.05., 04.05., 09.05., 16.05., 18.05., 23.05., 24.05.