Was Ehre und Ansehen bedeutet, definiert jede Gesellschaft anders. In Deutschland wurden einst Duelle durchgeführt, um Ehrverletzungen zu sühnen. Im Nahen Osten kommt es auch heute noch zu Tötungen im Namen der Ehre, sogenannten ‘Ehrenmorden’. – Folge (03/20) unserer Webserie „Auf eine Shisha mit“ zum Thema Schule.

Als Ehrenmord wird ein Mord bezeichnet, der sich im Kontext von patriarchalisch geprägten Familienverbänden ereignet und vorrangig von Männern an Frauen ausgeübt wird, um die aus Tätersicht verletzte Ehre der Familie wieder herzustellen. So heißt es in einer Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht im Auftrag des Bundeskriminalamts (BKA). Die Studie stammt aus dem Jahr 2011 und untersucht Ehrenmorde in Deutschland von 1996 bis 2005.

Für unsere Webserie „Auf eine Shisha mit...“ haben wir Osman Uygur in Oberhausen getroffen und über Ehre geredet. Uygur ist eine ehemaliger Türsteher, der viel für seine Ehre gekämpft hat. Heute zeigt er sich einsichtig und definiert Ehre neu.

In der Logik einer patriarchalischen Gesellschaft resultiert die Verletzung der Ehre meist aus dem Fehlverhalten der Frau in einem sexuellen Kontext. Die Frau hat demnach unberührt in die Ehe zu gehen, ihrem Mann treu zu sein und sich schamhaft zu verhalten. Aus einem Verstoß gegen diese Regeln leiten die Täter das Recht ab, die Frau zu töten. Dementsprechend waren (vermeintliche) Untreue oder eine angestrebte Trennung des Opfers die häufigsten Auslöser für Ehrenmorde.

Durch diese Form von Selbstjustiz wird der Ehrenkodex der patriarchalischen Gesellschaft über das allgemeine Tötungsverbot gestellt. Die Ehre der Familie ist wichtiger als das Leben des Einzelnen.

Laut Caner Aver, Wissenschaftler am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen, ist der Begriff Ehre in unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Milieus unterschiedlich stark ausgeprägt und wird unterschiedlich verstanden. Für die Identität von Türkischstämmigen habe er tendenziell eine größere Bedeutung als für Menschen in der westlichen Gesellschaft.

Der Stellenwert der Ehre kann Aver zufolge noch mehr zunehmen, wenn sehr traditionelle Menschen in einem engen kulturellen Umfeld zurückgezogen leben. Ihr Ehrverständnis bringen sie dann auch in seinen radikalen Formen in andere Gesellschaften mit: „Bei der Migration werden Traditionen nicht an der Grenze zurückgelassen”, sagt Aver.

Die Studie zeigt auch, wie die mediale Aufmerksamkeit für Ehrenmorde 2005 regelrecht explodiert ist. Grund hierfür dürfte unter anderem der Mord an Hatun Sürücü sein, eine türkischstämmige Deutsche, die Anfang 2005 von ihren Brüdern in Berlin mit drei Kopfschüssen getötet wurde, weil sie sich gegen eine Zwangsehe zur Wehr setze.

Bei den meisten Gewalttaten oder Morden im türkischen Milieu handelt es sich allerdings um Familiendramen, die im Affekt, aus Wut oder anderen Motiven begangen werden und so auch in anderen Gesellschaften vorkommen.

Ursprung von Ehrenmorden

Ethnologische und soziologische Forschungen kommen laut der Studie zu dem Schluss, dass für die Entstehung von Ehrenmorden eine Verknüpfung von mehreren Faktoren verantwortlich ist:

  • Eine arme, wenig entwickelte Agrargesellschaft, die häufig von Viehzucht gelebt hat und durch starke Konkurrenz geprägt war.

  • Die Existenz von patriarchalen Familienverbänden, die einen zentralen Stellenwert in der Gesellschaft einnahmen.

  • Die Dominanz von Männern über Frauen und deren Sexualität, einhergehend mit einer Abwertung von Weiblichkeit.

  • Die Abwesenheit des Staates, wodurch Selbstjustiz befördert wurde.

Die Ehre einer Familie war in solch einer Gesellschaft ihr symbolisches Kapital und wichtig für die Bildung von strategischen und wirtschaftlichen Bündnissen. Sie ergänzte dadurch das wirtschaftliche Kapital. Deshalb wurde dem symbolischen Kapital besonders in armen Familien ein hoher Stellenwert beigemessen. Durch den Erhalt seiner Ehre machte ein Familienverband deutlich, dass er die eigenen Interessen vertreten und wahren konnte.

Wurde die Ehre der Familie beschmutzt, wird sie durch den Ehrenmord wieder hergestellt. Die Tat wurde im Vorfeld oft gemeinschaftlich beschlossen. Dabei ist es auch wahrscheinlich, dass andere Frauen über die geplante Tat Bescheid wussten und ihre Durchführung billigten.

Ehrenmorde in Deutschland

Statistisch werden Ehrenmorde vom Bundeskriminalamt nicht erfasst, da es sich dabei nicht um einen eigenen Tatbestand handelt. Durch die Analyse von Prozessakten wurden im Zeitraum von 1996 bis 2007 78 Fälle identifiziert, bei denen es sich um Ehrenmorde im engeren und weiteren Sinne handelt. Insgesamt werden in Deutschland pro Jahr ca. 700 Tötungsdelikte im familiären und partnerschaftlichen Umfeld  verzeichnet.

Zwei Drittel aller Ehrenmorde ereignen sich in türkischen Familien. Bei 90 Prozent aller Ehrenmorde in Deutschland wird die Tat von Migranten der ersten Generation durchgeführt, die im Herkunftsland geboren wurden und noch eng daran gebunden sind. Sie stammten aus einer schlecht integrierten Schicht mit wenig Zugang zu Bildung. Die Opfer sind meist weiblich und durchschnittlich zwischen 18 und 29 Jahren alt. Allerdings liegt auch der Anteil an männlichen Opfern mit 43 Prozent unerwartet hoch. Grund dafür ist, dass mit den betroffenen Frauen auch deren unerwünschte Partner angegriffen werden.

Die Zahl der Ehrenmorde in Deutschland ist in den untersuchten Jahren verhältnismäßig konstant geblieben. Die Studie des Max-Planck-Instituts kam zu dem Ergebnis, dass der Tatbestand Ehrenmord in Deutschland nicht überdauern wird. Darum seien auch Befürchtungen unbegründet, die von einer Re-Ethnisierung der jüngeren türkischen Bevölkerung ausgehen.

Die Studie fand keine Hinweise darauf, dass die Praxis der Ehrenmorde über die Generationen weitergegeben wird. Obwohl Ehrenmorde eng an einen spezifischen kulturellen Hintergrund gebunden sind, dürfe auch nicht übersehen werden, dass  – wie bei der Mehrheit aller Gewaltverbrechen auch – ein geringer Bildungs- und Sozialstatus ein entscheidender Faktor sei.


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Ehre (315,6 KB)


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