Integration ist keine Einbahnstraße. Mit diesem Satz appellierte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Integrationsgipfel an deutsche Arbeitgeber, sich mehr für Migranten zu öffnen. Das Gegenteil trifft aber auch zu: Auch Migranten sollten nicht nur darauf warten, dass Staat und Gesellschaft auf sie zugehen. Eine Demokratie lebt davon, dass alle Bürger Verantwortung übernehmen und das Land mitgestalten. – Folge (06/20) unserer Webserie „Auf eine Shisha mit“ zum Thema Eigenverantwortung.

Integration ist keine Einbahnstraße. Mit diesem Satz appellierte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Integrationsgipfel an deutsche Arbeitgeber, sich mehr für Migranten zu öffnen. Das Gegenteil trifft aber auch zu: Auch Migranten sollten nicht nur darauf warten, dass Staat und Gesellschaft auf sie zugehen. Eine Demokratie lebt davon, dass alle Bürger Verantwortung übernehmen und das Land mitgestalten.

Für unsere Webserie „Auf eine Shisha mit...“ haben wir Mustafa Esmer getroffen und über Verantwortung und seine türkische Identität geredet. 

Im Fall der Türkischstämmigen kommt als Besonderheit dazu, dass viele von ihnen auch die Politik in der Türkei mitbestimmen können - und zuletzt als Wählergruppe von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan entsprechend stark umworben wurden.

In deutschen politischen Gremien sind die Deutschtürken nur schwach vertreten: Lediglich elf von 709 Abgeordneten im Bundestag haben einen türkischen Migrationshintergrund. Das liegt womöglich auch an einer schwachen Wahlbeteiligung. Bei der Bundestagswahl 2017 lag sie laut einer Umfrage der Universität Duisburg-Essen bei den Türkischstämmigen bei nur 64 Prozent, 12 Prozent weniger als in der Gesamtbevölkerung.

Die Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in NRW, Serap Güler (CDU), beobachtet das Problem auch in anderen Migranten-Communitys. Sie sieht Fehler auf beiden Seiten: „Viele von ihnen interessieren sich nach wie vor für die Politik der Heimatländer und weniger für unsere. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir es bisher nicht sonderlich gut geschafft haben, diese Menschen anzusprechen. Wenn Sie an die Gruppe der Spätaussiedler denken, zeigt sich ja, wie man es besser machen kann.“

Die Verbundenheit zu der Türkei ist nach wie vor sehr groß. Das geht aus einer Studie des NDR hervor. Insgesamt gaben 72 Prozent der Befragten an, dass der Begriff „Heimat“ voll und ganz auf die Türkei zutrifft. Bei Deutschland lag der Wert nur bei 26 Prozent.

Die türkische Regierung nutzt mittlerweile das Potenzial in Deutschland. 2014 führte die Türkei das Wahlrecht für die türkischen Staatsbürger im Ausland ein. Bereits 2010 nannte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in Köln Assimilation einen “Bruch des Völkerrechts”. Für Serap Güler attestiert Erdogan eine Umarmungsstrategie: „Er hat den Menschen schnell das Gefühl gegeben, sich um sie zu kümmern, für sie da zu sein und hat damit ein Vakuum gefüllt.“

Der türkische Staatspräsident ist mit seiner Strategie auf fruchtbaren Boden gestoßen. Von den 3 Millionen türkischstämmigen Menschen waren bei den vergangenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen laut der türkischen Wahlbehörde 1,4 Millionen wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag nur bei 46 Prozent. Doch unter denen gewannen Erdoğan und seine AKP zusammen mit der nationalistischen MHP eine klare Mehrheit.

Den Präsidenten eines anderes Landes zu lieben und zu verehren, ist zunächst nichts Verwerfliches. Problematisch wird es dann, wenn dieser Präsident nicht mehr für demokratische und rechtsstaatliche Werte eintritt. Staatssekretärin Güler betont: „Niemand verlangt von den Menschen, ihre Bindung zur alten Heimat abzubrechen. Aber ich würde mir wünschen, dass sie endlich hier ankommen, mit Verstand und Herz. Mich stört es ungemein, wenn ich Demonstranten sehe, die hier leben und sich für die Todesstrafe in der Türkei aussprechen.“

Suat Yilmaz, Leiter der Landesweiten Koordinierungsstelle kommunale Integrationszentren (LaKI), arbeitete als Streetworker in den Problemvierteln von Dortmund. Yilmaz tut sich schwer mit der Frage, was Migranten tun müssen. Die Ethnisierung von Problemen hält er für gefährlich: Letztendlich unterscheide einen Ali Arslan in Hamburg nichts von einem Kevin Müller in Dresden. In Ostdeutschland erlebe man ein ähnliches Phänomen bei der Identitätsfrage, so Yilmaz. Für ihn hat das Problem mit ökonomischen Milieus und Bildung zu tun.

Yilmaz hat Verantwortung für sein Leben übernommen und so den Sprung in ein höheres Bildungsmilieu geschafft. Er studierte Sozialwissenschaften. „Wenn ich ein Kind hätte, hätte das trotz meines Migrationshintergrunds in dieser Gesellschaft wahrscheinlich bessere Chancen als das Kind einer deutschen Mutter aus Bottrop, die Arbeitslosengeld bezieht”, sagt er.

In seiner Arbeit als Streetworker und Talentscout sprach Yilmaz mit den verschiedensten Jugendlichen. Deutsche und türkische Nationalisten gehörten auch dazu. „Die Gespräche haben sich nie unterschieden, es ging immer um dieselben Probleme: Angst und Hoffnung”, sagt er. “Wenn wir in der dritten und vierten Generation immer noch eine separierende Debatte führen, dann können wir die Integrationspolitik wegschmeißen. Diese Menschen sollen doch zusammenleben und nicht in zwei Welten oder Atmosphären!“

Yilmaz spricht nicht nur mit den Jugendlichen. Er versucht, gemeinsam mit ihnen Lösungen zu finden. „Wir leben im Zeitalter des Populismus. Den Populismus, den Erdoğan zum Beispiel zutage bringt, müssten wir ein Stück weit kopieren. Wir brauchen eine Art demokratischen Populismus. Wir fahren ein Rennen mit einem VW gegen Porsche und Ferraris.“

Er sieht auch Facebook als Problem. „Es ist der größte Stammtisch in der Menschheitsgeschichte. Du hast da keine Chance, zu argumentieren. Ein einziger Blogger kann über Facebook mehr Menschen erreichen als alle Bundestagsabgeordneten zusammen. Diese Menschen haben eine Definitionsgewalt. Wir erleben eine Umkehrung der Machtverhältnisse. Jeder kann mit systematischer Öffentlichkeitsarbeit mehr Follower haben als ein Fernsehsender.“

Deswegen gründete Yilmaz 2014, zusammen mit dem Autor dieses Textes, die Organisation „Die Verfassungsschüler“. Die Verfassungsschüler wollen die Demokratie und die Grundwerte des Landes, die in den ersten zehn Artikeln des Grundgesetzes stehen, emotional und offensiv vermitteln. Genau so, wie Populisten oder Hassprediger es auch machen. Yilmaz ist sich sicher, dass wir keine “sitzende Demokratiearbeit” machen können. Er nennt seine Methode eine “aufsuchende”.

„Die Debatten dürfen nicht im Internet stattfinden, sondern im Realen. Demokratie ist nichts, was angeboren ist. Jeder Generation muss sie neu beigebracht werden.“

2014 traten die Verfassungsschüler bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen als eigene Partei an. Die Jugendlichen haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.


Zum Download:

In unseren Handouts findest Du unsere Quellen, weitere Informationen und einen Leitfaden, mit dem Du auch einen Workshop zu dem Thema durchführen kannst. 

Politische Partizipation (231,4 KB)

Unser Workshopvideo 

In unserem Workshop haben wir einen kleinen Podcast erstellt.