Vor über 50 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter nach Deutschland. Daran, sie in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, dachte damals niemand. Gespaltene Persönlichkeiten und Generationen sind die Folge. Besonders seit der Zuspruch für Erdogan gestiegen ist, wird die Loyalität vieler Türkeistämmiger gegenüber Deutschland infrage gestellt. Dabei erleben wir gerade die Geburt einer vielfältigeren Gesellschaft. – Folge (13/20) unserer Webserie „Auf eine Shisha mit“ zum Thema Heimat.

Als drittes von insgesamt neun Ländern schloss Deutschland 1961 das Anwerbeabkommen mit der Türkei ab. Für die Gastarbeiter damals war das Rotationsprinzip vorgesehen. Konkret bedeutete das: zwei Jahre in Deutschland arbeiten und wieder zurück in die Heimat. Zu Beginn lebten die türkischen Gastarbeiter in Wohnheimen mit ihren Landsleuten und zählten gemeinsam die Tage bis zur Rückkehr. Eine Integration in die Gesellschaft planten weder die deutschen Politiker noch die türkischen Gastarbeiter.

Für unsere Webserie „Auf eine Shisha mit...“ haben wir Tugba Bakirci in Köln getroffen und über Heimat geredet. Bakirci stellt klar, Köln ist ihre Heimat. Dennoch sehen die anderen Menschen in ihr nur die Türkin.

Und doch sind die meisten mit ihren Familien in Deutschland geblieben. Geblieben ist aber auch ihre Sehnsucht nach der Türkei. Und neu dazu gekommen sind Probleme, die zwei unterschiedliche Heimatländer mit sich bringen. Die Türkei ist für die Türkeistämmigen heutzutage durch die Medien, die türkisch geprägten Stadtteile, durch eigene Shops und insbesondere durch die Familie allgegenwärtig in Deutschland.

Das bestätigen auch die Zahlen des Zentrums für Türkeistudien (ZfTi). In einer Befragung in Nordrhein-Westfalen gaben rund die Hälfte der Türkeistämmigen an, Heimatverbundenheit zur Türkei zu spüren. Zu Deutschland hingegen sagte das nicht einmal jeder fünfte. Eine ähnlich deutliche Tendenz zeigte sich auch in einem unserem Workshop, den CORRECTIV mit jungen Deutschtürken zum Thema Heimat  in Ellwangen in Baden-Württembergs, gegeben hat. Die Teilnehmer, die überwiegend aus der dritten Generation stammten, gaben zu 80 Prozent an, ihre Heimat in der Türkei zu sehen. Das sind vier von fünf.

Für den Geisteswissenschaftler des ZfTi Caner Aver ist dieses Ergebnis nicht überraschend. Sein Institut kam zu dem Ergebnis, dass die Heimatverbundenheit zu der Türkei bei Angehörigen der dritten Generation fast so stark ausgeprägt ist wie bei denen der zweiten; 43,6 Prozent fühlen sich heimatlich der Türkei verbunden.

Die größte Verbundenheit zur Türkei spüren in NRW wenig überraschenderweise die Menschen aus der ersten Generation, also der Gastarbeiter selbst, die noch in der Türkei aufgewachsen sind. Angehörige der dritten Generation, deren Eltern häufig schon in Deutschland geboren oder in jungen Jahren eingewandert sind, idealisieren das Herkunftsland der Großeltern. Das Leben in Deutschland ist eher eine pragmatische Entscheidung.

In unserem Workshop stellten wir die provokante Frage, für welches Land die Teilnehmer sterben würden. Die meisten entschieden sich für die Türkei. Neben dem Zuspruch für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, sind es solche Ergebnisse, die Zweifel an der Loyalität der Deutschtürken für die Bundesrepublik säen.

Es bleibt die Frage nach den Ursachen für diese Ambivalenz unter den Deutschtürken, und hierbei dürften auch politische Faktoren eine Rolle spielen. In keinem der Kabinette unter Angela Merkels Kanzlerschaft war je ein Deutschtürke vertreten. Auch im Bundestag sitzen lediglich elf türkischstämmige Abgeordnete. Die Wahlbeteiligung unter den Türkischstämmigen bei der Bundestagswahl 2017 war mehr als 10 Prozent geringer als im Rest der Bevölkerung.

Für den Geisteswissenschaftler Aver ist die emotionale Abwendung von Deutschland das Ergebnis gescheiterter Integrationspolitik und mangelnder Vertretung der Deutschtürken in öffentlichen Diskussionen. Ihm zufolge wurde viel zu häufig über statt mit den Menschen geredet. Auch die häufig negativ konnotierten Debatten über das Kopftuch, den Islam, die Integration, die Türkei, Erdoğan und Mehrfachidentitäten trügen dazu bei. Sie setzten die Türkeistämmigen immer wieder unter einen Rechtfertigungsdruck.  „Wenn die Mehrheitsgesellschaft dir nicht das Gefühl gibt, dass du zu ihnen, zu einem neuen Deutschland, gehörst, suchst du dir ein anderes soziales Gefüge“, so Aver. Viele Türkischstämmige finden es in der Herkunftskultur.

Doch auch die Türkischstämmigen selbst sieht Aver in der Pflicht: „Sie müssen Strategien im Umgang mit ihrer Mehrfachidentität entwickeln, die beide Seiten vereint, ohne eine auszuschließen. Den Teil ihrer deutschen Identität kennen sie oft noch nicht ausreichend”.  Den könnten Jugendliche besser kennenlernen, wenn sie beim nächsten Urlaub in der Türkei darauf achteten, was sie am meisten aus Deutschland vermissen.

Aver ist selbst Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie und gehört damit der zweiten Generation an. Man müsse auch lernen, zwischen Pragmatismus und Emotionalität zu unterscheiden: „Das ist nicht einfach in einer globalisierten Welt, in der man für 300 Euro in die Türkei fliegen kann und türkische Serien und Nachrichten über einen Satelliten zu Hause in Deutschland empfängt. Physisch kann man also in Deutschland leben, aber gedanklich und emotional im Herkunftsland der Eltern oder Großeltern.” Sich für eine Seite zu entscheiden bezeichnet Aver als komfortabler, als aus zwei Identitäten eine neue herauszubilden. Für die Bewältigung von Wertekonflikten müsse die Politik Angebote machen. “Wir dürfen die jungen Menschen damit nicht alleine lassen“, so Aver.

Aktuell geht der Trend unter Türkeistämmigen dazu, sich nicht entscheiden zu wollen. Statt „entweder oder“ wählen sie ein „und“. Gerade Menschen aus der dritten Generation möchten häufiger zwischen beiden Ländern pendeln und sehen ihre Heimat in Deutschland und in der Türkei, auch wenn sie sich am Ende für Deutschland als ihren Lebensmittelpunkt entscheiden. Bewusst nennt sich der Geisteswissenschaftler Aver deswegen auch Deutschtürke. Er lebt aus eigener Entscheidung in Deutschland, teilt die Werte dieses Landes. Aber die Türkei sei ebenfalls ein Teil seiner Identität, die er niemals aufgeben möchte.

Der Begriff Deutschtürke schließt die Identifikation mit beiden Ländern ein. Dass man dafür von allen Seiten Kritik erfahren kann, zeigt der Fall des ehemaligen deutschen Nationalspielers Mesut Özil. Als Özil sich für die deutsche statt für die türkische Nationalmannschaft entschied, erntete er aus der türkischen Community viel Kritik. Vor der Fußballweltmeisterschaft ließ der gebürtige Gelsenkirchener sich allerdings mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ablichten. Wochenlange Debatten in den Medien waren die Folge.

Trotzdem, findet Aver, hat die Situation etwas Positives. Es sei die schmerzhafte Geburt einer neuen Gesellschaftsform. „Wir befinden uns seit Jahren im Prozess einer gesellschaftlichen Transformation. Es ist wie die Geburt eines Kindes; es ist zwar sehr schmerzhaft, aber am Ende kommt ein Kind auf die Welt, das symbolisch für eine neue, vielfältige Gesellschaft steht. Probleme wird es zwar immer noch geben, aber am Ende werden wir diese neue Gesellschaft als Normalität begreifen und eher an sozialen statt an Integrationsproblemen arbeiten.“


Zum Download:

In unseren Handouts findest Du unsere Quellen, weitere Informationen und einen Leitfaden, mit dem Du auch einen Workshop zu dem Thema durchführen kannst. 

Identität (249,5 KB)


Unser Workshopvideo 

In unsrem Workshopvideo haben wir ein Statement für Deutschland gesetzt.