Sich in ein fremdes Land zu integrieren, ist eine persönliche Herausforderung für Zugezogene, aber auch eine gesamtgesellschaftliche für das aufnehmende Land. In Deutschland kommt sogar noch in Hinblick auf die Türkischstämmigen der dritten oder vierten Generation immer wieder die Frage auf: Hat die Integration nun funktioniert - oder nicht? – Folge (20/20) unserer Webserie „Auf eine Shisha mit...“ zum Thema Integration.

Als Deutschland 1961 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei abschloss, ist keiner davon ausgegangen, dass viele der Gastarbeiter und ihre Nachkommen für immer in Deutschland bleiben werden. Zu Beginn lebten die türkischen Gastarbeiter in Wohnheimen mit ihren Landsleuten und zählten gemeinsam die Tage bis zur Rückkehr. Weder sie noch die deutschen Politiker dachten über Integration in die deutsche Gesellschaft nach.

Für die Webserie „Auf eine Shisha mit...“ haben wir Marcel und Xalo in Bottrop getroffen und über Integration geredet.  

Stattdessen war ein Rotationsprinzip geplant. Es sah vor, dass die Arbeiter einige Jahre in Deutschland arbeiten und dann in die Heimat zurückkehren. Das Prinzip wurde ausgesetzt. Viele Arbeiter holten ihre Familien nach. In vielen Lebensbereichen wurden Türkischstämmige seitdem erfolgreich in die Gesellschaft integriert. Doch gerade weil die Integration der türkischen Gastarbeiter – zumindest teilweise – funktioniert hat, steht unsere Gesellschaft heute neuen Herausforderungen gegenüber.  

Versäumnisse und Defizite der Integration müssen immer im Zusammenhang mit der Migrationsgeschichte betrachtet werden. So hat die anfängliche Unterbringung der türkischen Gastarbeiter in separierten Stadtteilen immer noch Auswirkungen auf die Integration ihrer Kinder und Enkel. Denn auch heute noch leben verhältnismäßig viele Türkischstämmige in bestimmten Stadtteilen. In diesem Fall spricht man von ethnischer Segregation. Man denke hierbei an Duisburg-Marxloh oder die Dortmunder Nordstadt. „Physisch kann man in Deutschland leben, aber gedanklich und emotional im Herkunftsland der Eltern oder Großeltern,” sagt Caner Aver, Wissenschaftler am Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen.

Die Folgen davon wirken sich noch auf die nachfolgenden Generationen aus: Sprachdefizite sorgen dafür, dass türkische Migrantenkinder bereits bei der Einschulung gegenüber ihren Klassenkameraden Aufholbedarf haben. Der einzige Faktor für beruflichen Erfolg und spätere Aufstiegschancen ist die Herkunft jedoch nicht. Statt der ethnischen Herkunft hat das soziale Milieu einen sehr viel größeren Einfluss: Suat Yilmaz, Leiter der Landesweiten Koordinierungsstelle kommunale Integrationszentren (LaKI), der selbst den Sprung in ein höheres Bildungsmilieu geschafft hat, sagt: „Wenn ich ein Kind hätte, hätte das trotz meines Migrationshintergrunds in dieser Gesellschaft wahrscheinlich bessere Chancen als das Kind einer deutschen Mutter aus Bottrop, die Arbeitslosengeld bezieht”, sagt er.

Klaren Hindernissen, die sich auf ihre ethnische Herkunft beziehen, stehen Türkischstämmige aber bei der Suche nach einer Wohnung oder einer Arbeitsstelle gegenüber. Ein (zugeschriebener) Migrationshintergrund erweist sich oft als Nachteil: Bei der Wohnungssuche werden besonders Bewerber mit türkisch oder arabisch klingenden Namen benachteiligt. Bei der Arbeitssuche haben knapp 30 Prozent aller türkischstämmigen Migranten Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht.

Noch immer hat mehr als die Hälfte der türkischstämmigen Migranten im Alltag schon Erfahrung mit Diskriminierung aufgrund der Herkunft gemacht, auch wenn die Zahl abnimmt. Das wirkt sich auf die Identität aus. Auch heute noch verspüren türkische Migranten eine enge Verbundenheit zur Türkei. Die Bindung ist bei Angehörigen der dritten Generation fast so stark ausgeprägt wie bei der zweiten Generation, deren Eltern noch in der Türkei geboren wurden.

Das liegt unter anderem an häufig negativ konnotierten Debatten über das Kopftuch, den Islam, die Integration, die Türkei und ihren Staatspräsidenten, Recep Tayyip Erdoğan. Diese Diskussionen setzen die Türkeistämmigen immer wieder unter Rechtfertigungsdruck: „Wenn die Mehrheitsgesellschaft dir nicht das Gefühl gibt, dass du zu ihnen, zu einem neuen Deutschland, gehörst, suchst du dir ein anderes soziales Gefüge“, so Aver. Viele Türkischstämmige finden dieses Gefüge in der Herkunftskultur. So interessieren sich türkischstämmige Migranten auch noch stark für die Politik in der Türkei. In deutschen politischen Gremien und im Bundestag sind Türkischstämmige hingegen deutlich unterrepräsentiert. Und auch die Beteiligung an Wahlen in Deutschland ist bei türkischstämmigen Migranten niedriger als im deutschen Durchschnitt.

Ist Integration also gescheitert? Für gelungene Integration gibt es keine einheitliche Definition, ebenso wenig wie “die Türkischstämmigen” eine homogene Gemeinschaft bilden, sondern aus verschiedenen Ethnien (etwa Türken und Kurden) sowie Glaubensanhängern (Sunniten, Aleviten, aber auch Atheisten) bestehen, die ihre innertürkischen Konflikte auch in Deutschland austragen. „Versteht man Integration als ‘so-leben-wie-die-Mehrheitsgesellschaft’, dann ist in segregierten Vierteln natürlich nicht von Integration zu sprechen,” sagt Aver. Definiert man Integration aber als „Teilhabe an der Gesellschaft”, sind türkische Migranten der dritten und vierten Generation deutlich besser integriert als die Gastarbeiter der ersten Generation.

Geglückte Integration

Türkische Migranten kaufen Häuser in Deutschland, zahlen Steuern, kriegen Kinder, schicken diese zur Schule und in Sportvereine. In vielen Bereichen haben sich türkische Migranten der Mehrheitsgesellschaft angeglichen: Hat die erste Generation noch in mehr oder weniger ärmlich ausgestatteten Gebäuden gewohnt, so steigt von Jahr zu Jahr die Anzahl Türkischstämmiger, die ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung besitzen. Auch in der Familienplanung verschwinden die Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Familien: Türkischstämmige Frauen bekommen ähnlich viele Kinder wie deutsche Frauen.

Zentrale Werte, die jedem in der deutschen Gesellschaft zustehen, werden in der türkischen Gemeinschaft sehr geschätzt und sogar vermisst, beispielsweise Meinungsfreiheit. Caner Aver befragte für eine Studie türkische Migranten, die in die Türkei remigrierten und dann wieder zurück nach Deutschland kamen. Dabei fielen bei der Frage nach Faktoren, die für eine Rückkehr entscheidend waren, oft Begriffe wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte.

Nicht zuletzt wird ein Fortschreiten von Integration an zwei Phänomenen deutlich: Gesteigerten Ansprüchen an die Gesellschaft und ein feineres Empfinden für Diskriminierung: Je besser eine Person Deutsch spricht, je höher gebildet sie ist, je mehr sie am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, desto häufiger nimmt sie Diskriminierung wahr. Türkische Migranten sind großteils in Deutschland angekommen und haben andere Erwartungen als ihre Eltern oder Großeltern: Sie wollen gleichberechtigt sein und wie ihre Mitbürger ohne Migrationshintergrund behandelt werden. Das stellt unsere Gesellschaft aktuell wieder vor neue Herausforderungen.

Neue Herausforderungen

Soziologe Aladin El-Mafaalani stellt  in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ die These auf, dass Konflikte ein Zeichen für gelingende Integration sind. Je mehr Gruppen ein Mitspracherecht haben, desto mehr Auseinandersetzungen gibt es. In einem Interview mit „Portal Deutsch“ nimmt er als Beispiel die Kopftuchdebatte: „Der Kopftuchstreit findet deshalb statt, weil eine Frau mit Kopftuch studiert hat. Als die Frauen mit Kopftuch Putzfrauen waren, hat sich keiner aufgeregt. Als eine Frau mit Kopftuch Lehrerin wurde, entstand ein gesamtgesellschaftlicher Streit. Alle Zeitungen und Zeitschriften hatten Titelbilder dazu, alle Parteien haben dazu Programmpunkte, und in vielen deutschen Bundesländern gibt es dazu Gerichtsurteile. Über alle Instanzen bis hin zum Verfassungsgericht. Das kann man Konflikt nennen. Der Konflikt ist Ergebnis eines Integrationsprozesses, nämlich erhöhter Teilhabechancen von Kopftuch tragenden Frauen.“

Der Konflikt ist somit Ausdruck des Zusammenwachsens: Denn besser integrierte Menschen fallen mehr auf. In jeder Gesellschaft gibt es auch immer Gegner und Befürworter dieses Zusammenwachsens, führt El-Mafaalani in seinem Buch weiter aus. „Zusammenwachsen tut weh”, schreibt er. Doch gerade Deutschland zeichnet sich durch eine lebendige Geschichte aus, die geprägt ist von Zusammenwachsen, zuletzt durch die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland. Alle vergangenen Brüche und Veränderungen haben dafür gesorgt, dass es uns heute so gut geht wie noch nie zuvor –  nicht trotz, sondern gerade auch wegen der ganzen Konflikte, die Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Nicht nur zwischen Migranten und Deutschen, auch zwischen Männern und Frauen, Hetero- und Homosexuellen und noch vielen mehr. Konflikte treiben unsere Gesellschaft voran. Ausgehend von deutschen Philosophen, wie Karl Marx, Georg Simmel bis hin zu Max Weber, hat El-Mafalaanie die Theorie weiterentwickelt: Ohne Konflikte würde die Menschheit heute noch auf Bäumen sitzen. Konflikte sind das, was eine offene Gesellschaft ausmacht.

Dass Integrations-Konflikten auch ein großes Potential zur Veränderung der Gesellschaft innewohnt, sieht auch Geisteswissenschaftler Caner Aver: „Wir befinden uns seit Jahren im Prozess einer gesellschaftlichen Transformation. Es ist wie die Geburt eines Kindes; es ist zwar sehr schmerzhaft, aber am Ende kommt ein Kind auf die Welt, das symbolisch für eine neue, vielfältige Gesellschaft steht. Probleme wird es zwar immer noch geben, aber am Ende werden wir diese neue Gesellschaft als Normalität begreifen und eher an sozialen statt an Integrationsproblemen arbeiten.“


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