Mit dem weltweiten Anstieg von Terrorakten durch Al Qaida und den IS in den letzten zehn Jahren hat die Islamophobie in Deutschland zugenommen. Dabei ist die Angst vor Terrorismus in Bezug auf den türkisch geprägten Islam Religionsforschern zufolge unbegründet. Eine ambivalente politische Rolle spielen aber die religiösen Verbände in Deutschland. – Folge (10/20) unserer Webserie „Auf eine Shisha mit“ zum Thema Religion.

Schätzungsweise fünf Millionen Muslime leben in Deutschland. Mit fast drei Millionen Anhängern bilden die Türkischstämmigen unter ihnen die größte Gemeinschaft. Moscheen waren und sind ein wichtiger Treffpunkt für die Generation der Gastarbeiter. In den Teestuben von Moscheen trifft man sich und tauscht sich über die Arbeit, die Familie und das Leben in der Ferne aus.

Für unsere Webserie „Auf eine Shisha mit...“ haben wir Selim Sezgi in Chemnitz getroffen und über Religion geredet. Von Sezgin wollten wir erfahren welchen Stellenwert die Religion für ihn hat und wie es ist als Türke in Chemnitz aufzuwachsen. 

 

Wie hoch der Stellenwert des Islams für die Türkeistämmigen ist, zeigt eine Studie des Zentrums für Türkeistudien. In keinem gesellschaftlichen Bereich engagieren sich die Türkeistämmigen mehr als in ihrer Religionsgemeinschaft, prozentual fast dreimal so häufig wie christliche Deutsche es in ihrer Gemeinde tun. Kurioserweise schätzen sich Mitglieder der zweiten und dritten Generation als religiöser ein als ihre Eltern und Großeltern, obwohl sie seltener beten und Moscheen besuchen. Zu diesem Ergebnis kam die Universität Münster in einer repräsentativen Erhebung. Die Forscher erklären es sich damit, dass die jüngeren Generationen ein demonstratives Bekenntnis zu ihrer kulturellen Herkunft ablegen wollen.

 

Der deutschtürkische Geisteswissenschaftler Caner Aver schließt sich den Forschern an. „Die Religion ist auch ein Teil der Identität, sobald der Islam und die islamischen Länder im Fokus der internationalen Konflikte stehen oder die Islam-Debatte immer negativer geführt wird. Dann nehmen sie eine Abwehrhaltung ein und und schützen den Islam als Teil ihrer Identität”, so Aver. In wichtigen theologischen Fragen und Grundlagen sei die dritte Generation allerdings nicht so firm, vermutet er.

Diesem Bekenntnis zum Islam steht eine deutsche Bevölkerung gegenüber, die ihn immer mehr fürchtet. Es sind Gegensätze, die das Verhältnis zwischen Türkeistämmigen und Deutschen belasten. Besonders Terroranschläge, die im Namen des Islam verübt wurden, haben dazu beigetragen. Aver ruft daher zu einer sachlichen Debatte auf. Ein Großteil der Opfer islamisch motivierter Anschläge weltweit sind selbst Muslime. Statistisch gesehen, sagt Aver, sind in den vergangenen Jahren in Deutschland mehr Gewalttaten von Rechtsextremen verübt worden als von Islamisten. Trotzdem sei die Aufarbeitung in den Medien eine andere. Dadurch würden Muslime mit Gewalt gleichgesetzt, womit besonders jüngere Deutschtürken nicht ausreichend differenziert umgehen könnten. So entstünden bestimmte Stereotypen.

Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) profitiert von der Angst der Bevölkerung und schürt sie zusätzlich.  Zudem gründete sich noch vor der Flüchtlingskrise 2015 in Dresden der Verein Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida). Pegida arbeitet mit der AfD zusammen und ist ein Sammelbecken rechter und islamophober Kräfte. An den wöchentlichen Montagsdemonstrationen nahmen zeitweise Zehntausende teil. Dabei liegt der Anteil der muslimischen Bevölkerung in Sachsen lediglich bei 0,48 Prozent, in ganz Deutschland bei 5 Prozent.

Volker Beck, Lehrbeauftragter am Bochumer Centrum für religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität und ehemaliger Bundestagsabgeordnete, kann mit dem Wort „Islamkritik“ nichts anfangen. Er fragt, um welchen Islam es sich denn dabei handeln soll. „Ist es der Islam meiner Putzfrau, die zum Zuckerfest Baklava macht und nicht wahnsinnig religiös ist oder der Islam eines Typen, der aus einer Neuköllner Moschee zum IS gegangen ist als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit?” Bereits das Wort „Islamkritik“ homogenisiere den Islam. Ganz nach dem Motto, dass es nur eine gültige Variante des Islams gebe, und das sei die fundamentalistische des Islamischen Staates. Das sei das Bild, das Rechtspopulisten wie Alexander Gauland oder  Alice Weidel (beide AfD) und Islamisten vom Islam gleichermaßen zeichnen möchten. Für Beck ist das grober Unsinn: "Jeder Glaube wird erst als Geglaubtes von konkreten Gläubigen in Geschichte wie Gegenwart wirksam. Damit ist er eben immer Gegenstand von Interpretation und damit auch zwangsläufig dem Wandel unterworfen."

Die Probleme des türkisch geprägten Islams sieht er in der Entstehungsgeschichte der meisten türkisch geprägten islamischen Organisationen in Deutschland. „Die Verbände sind religiöse Dienstleister, die ihre Entstehungsgeschichte einer politischen Identität verdanken“, sagt Beck. Damit meint er besonders die zwei größten türkisch geprägten Organisationen, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) und die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG). Nach eigenen Angaben unterstehen der DITIB über 900 Vereine in Deutschland. Sie selbst ist wiederum der türkischen Religionsbehörde (DIYANET) unterstellt und damit dem türkischen Staat. Aus einer Dokumentation des Bundestages von 2015 geht hervor, dass der Beirat der DITIB vor allem aus Funktionären der türkischen Religionsbehörde besteht. Die Funktionäre haben außerdem ein größeres Stimmgewicht haben als die Vertreter der über 900 Ortsgemeinden. Die Religionsbehörde sendet Imame von der Türkei nach Deutschland.

Zeitweise hat sich auch die Millî Görüş von der türkischen Religionsbehörde Imame schicken lassen. Ein Sprecher erklärte gegenüber CORRECTIV, dass dies in Engpässen begründet gewesen sei. Mittlerweile bildet sie eigene Imame in Deutschland aus. Nach eigenen Angaben hat die IGMG in Deutschland rund 127.000 Mitglieder. Die Gemeinschaft wurde zeitweise vom Verfassungsschutz beobachtet. Gegründet wurde sie von dem mittlerweile verstorbenen türkischen Politiker Necmettin Erbakan, der stellvertretender Ministerpräsident der Türkei war. Er gilt als Ziehvater von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Der Einfluss der türkischen Politik auf die Religionsverbände ist nicht unmittelbar sichtbar. Die DITIB macht keine Parteiwerbung. „Aber die Menschen, die innerhalb der DITIB organisiert sind, stammen oft aus dem national-islamischen Milieu”, sagt Aver. “Dieses Milieu dominiert derzeit die AKP und die nationalistische MHP.” In ihrer offiziellen Rhetorik ergreife die DITIB keine Partei, aber in den Teestuben und in den Diskussionen unter Gemeindemitgliedern sprächen sich ihre Mitglieder durchaus für eine bestimmte Richtung aus.

Aver sieht die Politik und die Gesellschaft in der Verantwortung. Er fordert von der Mehrheitsgesellschaft, dass sie Antworten liefert, wie man diese Religionsorganisationen, aber auch Religionsgemeinschaften in Deutschland strukturell verankern kann. „Auch die Türkei muss sich im Klaren sein, dass sie die DITIB langfristig nicht aus der Türkei steuern kann.“

Volker Beck hingegen beobachtet, dass sich immer mehr Menschen, die sich früher loyal zu ihren Verbänden verhielten, nun gegen diese stellen. Sie fordern, dass man über einen deutschen Islam nachdenkt, unabhängig vom türkischen Staat. Ein deutscher Islam müsste auf religiöser Ebene nichts einbüßen, stünde aber nicht mehr im politischen Bezug zu irgendwelchen anderen Ländern.


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