Startchancen-Programm: Schulen in armen Kommunen könnten weniger von der Förderung profitieren
Mit dem Startchancen-Programm fördern Bund und Länder seit August mehr als 2.000 Schulen. Auch Kommunen sollen eigene Mittel bereitstellen. Weil viele mit einem defizitären Haushalt zu kämpfen haben, drohen ausgerechnet dort weniger Fördermittel anzukommen, wo sie besonders benötigt werden, wie Recherchen von CORRECTIV.Lokal zeigen.
In ganz Deutschland warten derzeit über 2.000 Schulen darauf, dass bei ihnen die „bildungspolitische Trendwende“ beginnt. Hunderttausende Kinder sollen hier vom Startchancen-Programm profitieren, besonders aus armen Familien und mit internationalen Biografien. Das große Ziel: Sie sollen besser lesen, schreiben und rechnen können, sodass möglichst viele nicht mehr die Mindeststandards in zentralen Fächern verfehlen.
Doch einige Kommunen können für ihre Schulen nicht garantieren, dass sie die geplanten Förderungen in vollem Umfang erreichen. Betroffen sind nach Informationen von CORRECTIV.Lokal besonders arme Kommunen. Der Grund sind spezielle Fördervereinbarungen, die vorsehen, dass Kommunen neben den Fördermitteln durch Bund und Länder auch Eigenmittel einbringen sollen. Einige Städte äußern Bedenken, ob sie diesen Anteil stemmen können. Dadurch ist unklar, ob ihre Schulen vollständig gefördert werden.
Fördert die größte Bildungsoffensive in der Geschichte Deutschlands wirklich ausreichend die Regionen, in denen am meisten finanzielle Hilfe benötigt wird?
Zahlreiche Schulen können notwendige Investitionen nicht planen
Im nordrhein-westfälischen Herne stehen mehr als acht Millionen Euro an zusätzlichen Fördermitteln auf der Kippe, die derzeit an acht Schulen verteilt werden sollten. Zu unsicher ist die Haushaltslage, die Großstadt im Ruhrgebiet macht riesige Schulden.
Auch in Kiel muss gespart werden. Es ist völlig unklar, ob durch den klammen Haushalt Eigenmittel aufgebracht werden können. Auf der Startchancen-Förderliste stehen dort 21 Schulen. Anders als in Nordrhein-Westfalen ist in Schleswig-Holstein nicht geklärt, wie hoch das Budget für jede Kommune überhaupt sein soll und damit ist nicht sicher, in welcher Höhe sie für den kommenden Haushalt Ausgaben planen müssen.
Es gibt weitere Kommunen, die derzeit ihren Schulen keine konkreten Fördersummen aus dem Startchancen-Programm zusagen können. Das ist das Ergebnis von Anfragen, die CORRECTIV.Lokal an 18 Kommunen in vier Bundesländern gestellt hat, die einen klammen Haushalt haben. Es sind nur Stichproben. Es ist daher wahrscheinlich, dass Schulen in weiteren Kommunen von der Unsicherheit betroffen sind.
Die Kommunen sollen trotz knapper Kassen für Schulmodernisierung hohen Eigenanteil aufbringen
Um das Problem genau zu verstehen, sind die Details wichtig: Insgesamt fußt das Startchancen-Programm auf drei Säulen, von allen sollen die Schulen profitieren. In der sogenannten Säule 2 geht es um individuelles Budget für „bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung“. Das Geld aus Säule 3 fließt direkt in mehr Fachkräfte. Für beide Säulen müssen die Kommunen keine Eigenmittel einbringen.
Anders in der ersten Säule: Mit dieser soll eine „zeitgemäße und förderliche Lernumgebung“ geschaffen werden, also die Schulausstattung verbessert werden. Um die Schulen zu modernisieren, sollen die Länder dafür einen Anteil von 30 Prozent aufbringen. Wenn die Mittel garantiert sind, stockt der Bund den Eigenanteil der Länder auf 100 Prozent auf.
In der Praxis reichen die meisten Länder ihren Anteil an die Schulträger weiter, dies sind oft Gemeinden, Landkreise, private Träger oder auch Städte und nur selten das Land selbst. Diese kümmern sich um die Errichtung des Schulgebäudes und sichern den Schulbetrieb. Doch, was passiert, wenn die Träger selbst das Geld nicht aufbringen können? Bekommen die Schulen dann gar kein Geld mehr aus der ersten Säule?
CORRECTIV.Lokal hat diese Fragen an alle Bildungs- und Kultusministerien der Länder gestellt. Die Antworten aus der folgenden Tabelle zeigen, dass nur vier Länder die vom Bund geforderten 30 Prozent sicher übernehmen.
Die Antworten zeigen auch, wie langsam das Startchancen-Programm anrollt: Erst drei Bundesländer haben ihre Förderrichtlinien veröffentlicht. Solange das nicht geschieht, können sie kein Geld vom Bund beantragen. In Bayern ist es etwa geplant, die Förderrichtlinie erst „im Laufe des ersten Halbjahres 2025“ zu veröffentlichen.
Kiel: „Bei der derzeitigen Haushaltslage sind zusätzliche Investitionen nicht möglich.“
Als einziges Bundesland ließ das Bildungsministerium Schleswig-Holstein trotz mehrfacher Nachfrage die Fragen von CORRECTIV.Lokal unbeantwortet. Die Stadt Kiel schreibt, es gebe bisher noch keine Förderrichtlinie.
Für Kerstin Graupner, Pressesprecherin der Landeshauptstadt Kiel, ist die Säule 1 wichtig, um dem Sanierungsstau an Schulen entgegenzuwirken mit zusätzlichen Maßnahmen, die bisher nicht ohnehin schon geplant waren.
Graupner kritisiert, dass Bund und Länder für die gezielte Unterstützung der Schulen rühmen und gleichzeitig „mit keinem Wort erwähnen, dass sie dabei auch den Schulträger verpflichten wollen, 30 Prozent der investiven Maßnahmen zu finanzieren“. Bei der derzeitigen Haushaltslage der Stadt Kiel seien zusätzliche Investitionen nicht möglich. Der Haushalt wäre dann von der Kommunalaufsicht nicht mehr genehmigungsfähig, sagt Graupner. In diesem Fall ist das schleswig-holsteinische Innenministerium zuständig und könnte Vorgaben machen, dass anvisierte Ausgaben in Haushaltsplänen gekürzt werden müssten oder andere Auflagen machen, bevor Kiel neues Geld ausgeben kann.
Womöglich wird Kiel auf die zusätzlichen Fördermittel verzichten müssen.
Herne: Hohe Armutsquote, wenig Geld
Rund 450 Kilometer südlich im nordrhein-westfälischen Herne gibt es zwar eine Richtlinie, aber das Geld ist auch dort knapp: Die geschlossenen Bergwerke ließen über die Jahrzehnte die Arbeitslosigkeit drastisch ansteigen. Viele ehemalige Bergleute und ihre Familien gerieten in finanzielle Not. Die Armutsquote stieg. Auf dem Papier leben in Herne also viele Menschen, die mit dem Startchancen-Programm gefördert werden sollen. Doch die leeren Kassen der Stadt gefährden, dass das Programm in Herne vollumfänglich umgesetzt werden kann.
Seit 2024 befindet sich Herne in einer sogenannten Haushaltssicherung, Investitionen sind kaum mehr möglich. Stattdessen muss die Stadt sparen, kürzen und Stellen abbauen. Binnen zehn Jahren will Herne auf diese Weise den Haushalt ausgleichen.
In dieser Realität leitet Robert Faber die Josefschule, die als eine von acht Schulen in Herne für eine Startchancen-Förderung ausgewählt wurde. An seiner Schule haben rund 95 Prozent der Kinder eine internationale Biografie. Im Gespräch macht Faber deutlich, wie allgegenwärtig Armut bei seinen Schülerinnen und Schülern ist und warum bei ihm besonders Kinder mit Migrationsgeschichte betroffen sind.
Für den Schulleiter ist Armut der größte Bildungshemmer. Damit Maßnahmen nachhaltig wirken könnten, brauche es mehr Freiräume an den Schulen: mehr Personal, niedrigschwellige Angebote und mehrsprachige Familienbegleitung. Er wünscht sich eine Armutsdebatte, damit in Deutschland die Lebenswelt dieser Kinder besser verstanden wird.
Das Startchancen-Programm sei „ein richtiger Schritt, aber ein sehr kleiner“, sagt Faber. Das Geld aus der ersten Fördersäule könne er gebrauchen, um das alte Schulgebäude zu sanieren und „große Raumprobleme“ anzugehen. Ob er damit rechnet, dass das Geld wirklich ankommt? „Der Schulträger und das Schulamt stehen beinhart hinter uns. Wir kriegen alles, was möglich ist, aber sie haben ja auch kein Geld.“
Land NRW sieht keinen Grund, arme Kommunen mit zusätzlichen Fördermitteln für Startchancen-Schulen zu unterstützen
Die Pressestelle der Stadt Herne schreibt, dass sie versuche, den Eigenanteil von 30 Prozent aufzubringen und sei grundsätzlich bestrebt, „die zur Verfügung gestellten Fördermittel in voller Höhe auszuschöpfen“. Eine entsprechende Garantie sei aufgrund der aktuellen Haushaltslage allerdings nicht möglich. Dass andere Investitionen „kompensiert oder verschoben“ werden müssen, sei nicht auszuschließen.
Das Land Nordrhein-Westfalen verweist hingegen auf das Gemeindefinanzierungsgesetz, welches Mittel für die Schulen in Herne bereitstellen und auch für das Startchancen-Programm genutzt werden könnte. Die Stadt Herne sieht das anders: Wenn sie Geld aus diesem Topf für das Startchancen-Programm verwenden, „würden sich die erheblichen finanziellen Herausforderungen und die angespannte Haushaltssituation der Stadt Herne weiter verschärfen“, schreibt die Pressestelle der Stadt Herne. Dabei bezieht sich die Stadt auf Ausgaben, die nicht gedeckt seien, die sie aber verpflichtend umsetzen müsste. Mit den Fördermitteln aus der Säule 1 könnten sie den massiven Investitionsstau nicht beheben.
In Herne sowie auch in allen anderen Städten und Gemeinden sind die Haushaltsplanungen für 2024 bereits abgeschlossen. Die Mittel für das Startchancen-Programm sind noch nicht einkalkuliert. Für einige Städte gibt es sogar einen Doppelhaushalt, der bereits beschlossen ist. Damit kann dort frühestens ab 2026 in eine bessere Schulausstattung investiert werden.
Aus Hattingen, einer Stadt im südlichen Ruhrgebiet, heißt es dazu: „Wir können ‘zwischendurch’ keine zusätzlichen Gelder, die nicht geplant waren, generieren, da in unserer finanzschwachen Kommune das Geld nicht auf der Straße liegt und nur darauf wartet, dass wir es einsammeln.“
Trotzdem gibt sich Hattingen optimistisch, dass sie die Eigenmittel in den kommenden Jahren aufbringen können. Insgesamt geben sieben von 18 Kommunen an, dass sie trotz klammer Haushaltslage die benötigten Mittel stemmen können.
Wahrscheinlich werden andere Kommunen weniger optimistisch sein. Denn immer mehr Kommunen in Deutschland haben mit einem defizitären Haushalt zu kämpfen. Allein in NRW sind die Zahlen gravierend: Aktuell geben 378 von 396 Städten und Gemeinden mehr aus als sie einnehmen. Zahlreiche Kommunen sind in einem Haushaltssicherungskonzept – neue Ausgaben sind kaum noch möglich. Und das zu Lasten der Schulen mit vielen Kindern, die besonders „Startchancen“ benötigen.
CORRECTIV.Lokal bleibt mit seinem deutschlandweiten Lokaljournalismus-Netzwerk am Thema dran.
Wir wollen wissen: Wie viel Geld wird tatsächlich ausgegeben? Kommt das Geld bei den Schulen und Kindern an, die es am meisten brauchen? Wofür wird das Geld konkret ausgegeben? Werden die Ziele des Programms erreicht? Wie groß ist der Verwaltungsaufwand? Und entwickelt sich tatsächlich ein positiver Wandel im deutschen Bildungssystem?
Um diese Fragen beantworten zu können, sind wir auf Sie angewiesen. Uns interessieren die Erfahrungen von Schulrektorinnen, Lehrkräften, Eltern, Psychologen, Sozialarbeiterinnen und anderen Menschen, die einen Einblick ins Startchancen-Programm und das Bildungssystem in Deutschland haben. Schreiben Sie an unsere Reporterin Miriam Lenz oder nutzen Sie weitere Kontaktwege, wie den anonymen Briefkasten.