Flucht & Migration

Traum(a)land

Geflüchtete sind oft schwer traumatisiert. Oft entwickeln sich daraus psychische Erkrankungen und verhindern eine Integration. Betroffene können zur Gefahr für sich selbst werden – oder sogar für andere. Trotzdem werden sie fast nie therapiert. Ein Systemversagen mit Ansage.

von Anette Dowideit , Gabriela Keller

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Als Ibrahim Willeke in Deutschland eintrifft, glaubt er, dass sein Leben nun richtig anfangen kann. Die Gewalt im Libanon, der Hass, die Todesangst, all das liegt hinter ihm, über tausende Kilometer auf der Balkanroute. „Ich dachte: Mir ist etwas Schlimmes passiert, aber das ist vorbei“, sagt er. 

Es ist Herbst, November 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Ibrahim Willeke heißt da noch anders, er wird kurz nach seiner Ankunft in eine Sammelunterkunft gebracht, die abseits der Stadt zwischen Kuhweiden liegt. Willeke gerät dort ins Trudeln. Etwas läuft schief; es gibt Probleme mit anderen Bewohnern, die alten Ängste aus seiner Heimat flackern wieder auf. Aber es ist keiner da, an den er sich wenden kann: „Es gab keine Ansprechpartner, keine Sozialarbeiter, niemanden“, sagt er, „nur einen Hausmeister.“

Erst sieben Jahre später erhielt er die Diagnose: Ibrahim Willeke ist schwer traumatisiert. Noch heute holen ihn Flashbacks und Panikschübe ein. 

Jeden Tag kommen Hunderte Frauen, Männer und Kinder wie Ibrahim Willeke in Notunterkünften irgendwo in Deutschland an und suchen bei uns Schutz. Viele von ihnen haben ein Ausmaß von Gewalt erlebt, dass sich viele Menschen in Deutschland kaum vorstellen können, Folter, Vergewaltigungen, Kriegsgräuel. 

Lässt man sie damit allein, kann das schwere Folgen haben. „Ich habe nicht die Tendenz zur Überdramatisierung. Aber ich sehe in dem Bereich eine relativ große Problematik auf uns zukommen, vor allem bei Geflüchteten aus chronischen Krisenregionen“, sagt der Würzburger Arzt und Experte für Flüchtlingsgesundheit, Joost Butenop. „Jeder Afghane, der kommt, kennt nichts anderes als Krieg. In Syrien ist es inzwischen ähnlich. Im Irak auch.“

Viele unbehandelte Flüchtlinge werden krank, manche gefährlich

Schwere psychische Krankheiten heilen nicht einfach aus. Sie werden schlimmer, vielleicht chronisch. Betroffene können nicht arbeiten, sich nicht integrieren, viele werden auch körperlich krank und damit enorm teuer für das Gesundheitssystem. Und das sind noch die harmlosesten Folgen. Andere verletzen oder töten sich selbst. Manche verletzen oder töten andere. So wie Ibrahim A., der Anfang 2023 in einem Regionalzug im norddeutschen Brokstedt zwei fremde junge Menschen erstach.

Jedes Mal, wenn diese Extremfälle passieren – ein psychotischer Geflüchteter, der nicht oder kaum therapiert wurde, tötet Menschen – ist der öffentliche Aufschrei groß: Wie konnte ein solches Systemversagen mit Ansage passieren?

Meistens endet das Interesse von Politik und Medienöffentlichkeit an diesem Punkt und niemand analysiert die tiefergehenden Ursachen. CORRECTIV hat deshalb in dieser Recherche systematisch untersucht:

Wie viele der Asylantragsteller im Land, die dringend therapiebedürftig sind, bekommen diese Hilfe tatsächlich?

Woran liegt es, dass so viele sie nicht bekommen? 

Wozu kann es führen, wenn so viele Menschen mit schwersten seelischen Verletzungen nicht behandelt werden? 

Das erste Ergebnis vorneweg: Schätzungsweise 1,1 Millionen Schutzsuchende im Land müssten therapiert werden. Doch nur ein winziger Bruchteil erhält psychische Hilfe. Und das, obwohl die Nationale Akademie der Wissenschaften schon 2018 eine Warnung an die Bundesregierung aussprach: Dieses Systemversagen mit Ansage sei gefährlich. 

Wie groß ist das Problem?

Es lässt sich nicht eindeutig sagen, wie viele der Geflüchteten traumatisiert sind und Therapeuten brauchen. Die Zahl wird nicht erfasst. Das ist Teil des Problems, dem CORRECTIV in dieser Recherche auf den Grund geht.

Es gibt aber Anhaltspunkte: Vor kurzem werteten Forscher die verfügbaren Studien zu dieser Frage aus. Das Ergebnis: 40 Prozent der Ankommenden in Deutschland litten unter Depressionen, 30 Prozent unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Einige davon an beidem.

Andere Forscher führten 2015 Tiefengespräche mit Asylsuchenden in Bayern und fanden heraus, dass zwei Drittel von ihnen unter einer oder mehreren psychischen Krankheiten litten.

Nach Auskunft der Bundesregierung halten sich derzeit knapp 3,3 Millionen Asylsuchende mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik auf. Rechnet man konservativ – also mit den 30 Prozent, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, kommt man auf die Zahl von 1,1 Millionen potenziellen Therapiepatientinnen und -patienten. 

Der bayerische Experte Joost Butenop arbeitet für den öffentlichen Gesundheitsdienst in Unterfranken und hat in der Region vor anderthalb Jahren ein Screening bei neu ankommenden Geflüchteten durchgeführt. Dabei kam er zu ähnlichen Ergebnissen wie die meisten Studien: Er stellte bei etwa 30 Prozent ein hohes bis sehr hohes Risiko fest, eine chronische psychiatrische Erkrankung zu entwickeln, vor allem Depressionen und PTBS. 

Die Betroffenen sind oft unsichtbar: Viele leben in Sammelunterkünften auf dem Land oder weit draußen am Stadtrand. Darunter sind Heime, die in einer Art Dauerkrise stecken.

Wer wissen will, wie es an diesen Orten zugeht, muss Menschen fragen, die dort arbeiten. Bloß dürfen die in der Regel nicht mit der Presse sprechen. So wie René Haas, der eigentlich anders heißt, Leiter einer Sammelunterkunft in einer großen Stadt: Bei ihm leben nur Männer, Geflüchtete, Migranten, auch deutsche Wohnungslose, insgesamt 500 und „zu 90 Prozent psychisch krank“, wie er sagt, manche mit einer langen Liste von Einträgen bei der Polizei, viele alkohol- oder drogensüchtig

„Es gibt Leute, die schiebt man von Unterkunft zu Unterkunft, bis sie wieder straffällig werden“, sagt er. Am Ende landen sie alle bei ihm. Denn Haas darf niemanden ablehnen.

„Es gibt Leute, die wachen jede Nacht schreiend auf“, sagt er. „Es gibt Leute, die schlagen um sich, hauen auf Bewohner ohne Grund ein, ziehen ein Messer, andere ziehen sich zurück.“ Manche wenden sich auch an die Mitarbeiter und bitten um Hilfe, weil sie psychisch nicht mehr zurechtkommen. „Und was dann passiert, hängt davon ab, wie qualifiziert die sind“, er lässt den angefangenen Satz kurz in der Luft hängen und setzt dann nach: „Wir haben Personalmangel.“

Anderswo sind solche Fälle die Ausnahme. Bei Haas ist es die Regel. Sein Heim ist die Endstation für Menschen, die verloren gegangen sind. Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte, die wenigsten gehen gut aus. So wie die eines Bewohners, der in seinem Zimmer völlig verwahrloste. Nachts schlief er nackt auf dem Drahtgeflecht des Bettes,  die Matratze habe er weggeworfen. Er bekam eine neue und wieder warf er sie weg. Haas weiß nicht, warum. Vielleicht wollte der Mann leiden, meint er, „oder er verarbeitet so Folter-Erfahrungen“.

PROBLEM 1: Niemand stellt fest, wer Hilfe für die Seele braucht

Ibrahim Willeke kommt inzwischen zurecht. Oder, wie er sagt, er ist auf der Mitte des Weges. Ab und an kommen sie noch, Flashback, Bilder, Panikattacken. Es passiert, dass er auf dem Weg zur Arbeit plötzlich auf die Straße läuft, unbewusst die Arme um sich geklammert, steif vor Angst. „Manchmal kann ich auf einmal nichts mehr sehen“, sagt er, „ich pausiere, und dann komme ich wieder in die Realität zurück.“

Seit einem Jahr macht er eine Therapie; bisher ging es darum, ihn zu stabilisieren, sagt er: „Jetzt haben wir angefangen, tief reinzugehen und dieses Trauma zu sortieren.“

Die Therapie ist langwierig und harte Arbeit. Die Traumata sitzen tief. Willeke ist schwul, im Libanon kann das tödlich sein. Ende 2014 wurde er attackiert von Islamisten, die Jagd machten auf queere Menschen. Über eine Dating-App machten sie ihn ausfindig, lockten ihn in eine Wohnung. Dann warfen sie ihn vom Balkon. Willeke stürzte drei Stockwerke tief. „Die Angst war nicht vor dem Fall“, sagt er. „Die Angst war, als der Angreifer danach zu mir herunter kam und rief: Allahu akbar.“

Ibrahim Willeke
Ibrahim Willeke wurde im Libanon von Islamisten attackiert und aus dem dritten Stock eines Hauses geworfen. Noch heute holen ihn Flashbacks ein. Foto: Ivo Mayr

Ein Jahr lang lag er im Krankenhaus. Sofort danach flüchtete er. Eigentlich wollte er in die Niederlande, aber unterwegs wurde er krank. In Köln brachte man ihn ins Krankenhaus. Dort sagte er, er müsse weiter, er sei schwul, ein Arzt antwortete: „It’s okay to be gay in Cologne“. It’s okay to be gay – das hatte Willeke noch nie gehört. Also blieb er und glaubte, dass es nun anfängt, sein neues Leben.  

Aber nach einer Woche in Köln musste er umziehen, nach Königswinter, in die abgelegene Unterkunft zwischen den Kuhweiden. Dort sprach es sich herum, dass Willeke schwul war. Das machte ihn zur Zielscheibe von Hass und Schikane, wieder einmal. In der Dusche warfen sie mit Eiern auf ihn. Die Männer auf seinem Zimmer sprachen nicht mit ihm, ließen ihn nicht mit Kartenspielen. „Aber am Abend kamen sie und fassten mich an“, sagt er. „Ich konnte nicht mehr sicher schlafen. Ich dachte: Das ist wieder das Gleiche wie im Libanon, die gleiche Art von homophoben Menschen.“ 

Willeke wusste nicht, was ein Trauma ist

Seit einigen Jahren engagiert er sich nun selbst für andere queere Geflüchtete. Denn er hat nicht vergessen, wie es in der Unterkunft für ihn war: Zu den alten Schrecken kamen neue, reale Gefahren, ständige Aggressionen, manche verdeckt, manche offen. Retraumatisierung, sagt er heute. Damals wusste Willeke nicht, was ein Trauma ist. Er fühlte sich wütend, traurig; es ging ihm immer schlechter. Und er war auf sich gestellt, es gab keine Hilfe, „keine psychosoziale Beratung, nichts“.

Aber Ibrahim Willeke ist ein Typ, der sich zu helfen weiß. Er fing an, herum zu telefonieren, bei Flüchtlingshelfern, bei Initiativen. So kam er letztlich in Kontakt mit der Psychologin Danie Meyer, einer Amerikanerin in Köln, die ehrenamtlich Geflüchtete  betreut. „Im Grunde sitzt mir immer wieder dieselbe Person gegenüber, wieder und wieder in unterschiedlichen Fällen, mit derselben Geschichte“, sagt sie. „Weinend, schlaflos, hoffnungslos. Sie wissen nicht mal, dass sie traumatisiert sind. Die meisten kommen nach einem Selbstmordversuch.“

Das dürfte so gar nicht passieren. Denn schon seit dem Jahr 2013 gibt es eine verbindliche EU-Richtlinie für die Mitgliedstaaten. Sie besagt: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller die erforderliche medizinische Versorgung erhalten, die zumindest die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten und schweren psychischen Störungen umfasst.“

Mit anderen Worten: Alle Geflüchteten müssen gleich nach ihrer Ankunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung von Ärzteteams untersucht werden. Sind Sie akut krank, am Körper oder an der Seele?

Wie Deutschland gegen EU-Gesetze verstößt

Das Problem ist, dass das faktisch sehr häufig nicht passiert, obwohl die EU-Regelung es vorschreibt. Stattdessen sind die Menschen oft sich selbst überlassen – so wie Ibrahim Willeke. Nur wenn sie viel Glück haben, fällt überhaupt jemandem auf, dass sie psychisch krank sind.

Fragt man den Heimleiter, den wir René Haas nennen, nach Routine-Checkups für neu Angekommene, lacht er bitter. „Das kannst du vergessen“, sagt er. „Probleme fallen im Alltag auf, meist bekommen es die anderen Bewohner mit.“ Es gibt Kriegstraumata, Foltererfahrungen, Fluchtraumata, und oft melden sie sich dann, wenn die Leute zur Ruhe kommen, sagt er: „Wenn du dir nicht auf dem Weg irgendwas mitgenommen hast, dann stellst du dir spätestens hier grundsätzliche Fragen und fällst in ein Loch.“

Die Not spitzt sich mit dem Wohnungsmangel zu; einige Geflüchtete bleiben jetzt monate- oder sogar jahrelang in den Sammelunterkünften. Manche kommen nie wieder heraus, weil sie dort sterben. In seiner Unterkunft, sagt Haas, leben Schwerkranke, Alte, frisch aus der Haft Entlassene und Sterbende, die in ein Hospiz gehören, psychisch Kranke, Junkies, Obdachlose, Suizidale, Säufer, Gewalttäter. Wenn am Tag nur zwei Mal die Polizei kommt, sagt er, war es ein ruhiger Tag. Er betont immer wieder: Normal ist das nicht. Seine Unterkunft zählt zu den härtesten. 

René Haas sagt aber auch: „Wir machen einen besonderen Job in den Schwerpunkt-Unterkünften, der viele Gefahren abfängt. Weil die Leute hier drin und nicht auf der Straße eskalieren.“ Das ist eine große Aufgabe, aber um sie zu erfüllen, müsste das Heim viel besser ausgestattet sein, sagt er: Die meisten Mitarbeiter halten das nicht lange aus, viele bekommen Angst vor den Bewohnern: „Es gibt Tage, da habe ich Migräne, weil der Druck so groß wird.“

Um Gesundheitsscreenings, die es eigentlich geben müsste, um Kranke ausfindig zu machen, kümmert sich in der Praxis also meist niemand – das sagen Fachleute, Beschäftigte in den Unterkünften und Ärzte, mit denen CORRECTIV sprach. Verantwortlich sind die Bundesländer. Denn sie betreiben die Erstaufnahmeeinrichtungen. CORRECTIV hat alle 16 Innenministerien der Bundesländer darum gebeten, aufzuschlüsseln, wie viele Geflüchtete tatsächlich seit Anfang 2021 auf ihren – auch psychischen – Zustand hin untersucht wurden. Alle Bundesländer, die auf unsere Fragen antworteten, schreiben uns: Jeder Asylantragsteller werde grundsätzlich medizinisch untersucht. 

Ob dabei allerdings auch ihr seelischer Zustand untersucht wird, darauf antworteten einige der Bundesländer so schwammig, dass sich daraus nur eines lesen lässt: wohl kaum.

Rheinland-Pfalz will „künftig ein Verfahren etablieren

Hamburg zum Beispiel antwortete, die Untersuchung diene „primär zur Entdeckung übertragbarer Krankheiten“. Rheinland-Pfalz teilte mit, es sei „beabsichtigt“, künftig ein „Screeningverfahren zur Identifikation psychischer Belastungen“ als „Regelangebot“ zu etablieren. Und das bevölkerungsreichste Bundesland NRW teilte mit: Bei den medizinischen Untersuchungen gehe es um „offensichtliche Vulnerabilitäten“ – in „seltenen Fällen“ öffneten sich Schutzsuchende und gäben „Vulnerabilitäten bekannt“. Einfach ausgedrückt: Nur, wer den Arzt aktiv darauf anspricht, sich selbst für traumatisiert zu halten, fällt überhaupt auf.

Auf unsere Frage, wie viele seelische Notfälle bei den Untersuchungen entdeckt wurden, antworten die meisten Ministerien noch ausweichender: Dieser Sachverhalt werde nicht statistisch erfasst, hieß es etwa in Hamburg. Rheinland-Pfalz schrieb, eine „genaue zahlenmäßige Angabe“ könne man nicht machen. Fünf Bundesländer beantworteten unsere Fragen überhaupt nicht: Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Sachsen und Brandenburg. 

Nur Schleswig-Holstein antwortete auf die Fragen von CORRECTIV mit konkreten Zahlen: In diesem Jahr sei demnach bei knapp sieben Prozent der untersuchten Neuankömmlinge eine seelische Erkrankung festgestellt worden.

Vieles verhindert Hilfe – mitunter auch der Stolz junger Männer

Ein Großteil der Fälle, in denen akute Traumatherapie nötig wäre, kommt also gar nicht erst ans Licht. Das liegt auch daran, dass kaum ein Schutzsuchender aktiv einen Helfer anspricht und sagt: Ich glaube, ich brauche Therapie. Sehr viel verhindert das: die Sprachbarriere, kulturelle Hürden, das Unwissen, der Stolz junger ankommender Männer, die nicht als bemitleidenswert angesehen werden wollen.

Zohra Murad, auch ihr Name ist geändert, ist Psychologin, kam selbst als Geflüchtete aus Afghanistan und hat in einer Sammelunterkunft gearbeitet. 200 Bewohner lebten dort, und sie war die einzige Psychologin, mit einer 40-Prozent-Stelle. Sie hat gekündigt; die Belastung war viel zu hoch. Sie sagt: „Eine Klientin von mir, eine sehr religiöse Frau, Afghanin, ging im Ankunftszentrum zu einem Therapeuten, und der sagte zu ihr: Er glaube nicht an Religion: Da ist sie nie wieder hingegangen.“ Fünf Jahre habe sie sich danach nicht getraut, noch einmal woanders Hilfe zu suchen.

Wann immer Zohra Murad zur Arbeit kam, stand eine lange Warteschlange vor ihrem Büro; mitunter hatte sie nur zehn Minuten Zeit pro Person. Wer sich nicht selbst meldete, blieb unbehandelt. Und wer sich auffällig verhielt, stand schnell draußen vor der Tür: „Das ist das große Thema, die Hausordnung“, sagt die Psychologin. „Wer sich nicht an die Regeln hält, bekommt Hausverbot.“ Um Prävention gehe es in dem System selten; viele Probleme blieben unerkannt: „Die psychische Versorgung steht immer an letzter Stelle.“

Wie viele der Bewohner psychisch erkrankt sind, bleibt also unklar. 

Der Arzt glaubt: Vielleicht wollen die Behörden es nicht so genau wissen

Der bayerische Arzt Joost Butenop glaubt, dass die Behörden es lieber gar nicht so genau wissen wollen: „Es wird nicht routinemäßig gescreent. Denn wenn man sucht, dann findet man. Und dann muss man den Betroffenen auch etwas anbieten.“

Für Schlagzeilen sorgt das Problem aber, wenn etwas Schlimmes passiert, etwa, als der Asylbewerber Ibrahim A. in einem Regionalzug mehrere Menschen mit einem Messer tötet. 

Der Fall Ibrahim A.

 Am 25. Januar dieses Jahres steigt der staatenlose Palästinenser Ibrahim A. in einen Regionalexpress von Hamburg in Richtung Kiel; im Zug sticht er plötzlich mit einem Messer um sich, tötet zwei Menschen und verletzt fünf. Jetzt sitzt A. in Untersuchungshaft, wegen heimtückischen Mordes in zwei und versuchten Totschlags in vier Fällen. In dem Prozess am Landgericht Itzehoe geht es aber auch um die Frage, ob Ibrahim A. überhaupt schuldfähig ist.

Denn Ibrahim A. wurde wenige Tage vor der Tat aus einem Gefängnis entlassen. Dort war A. aufgefallen, als psychotisch, unberechenbar und hoch gewalttätig. Ein Sachverständiger diagnostizierte eine Drogensucht und eine wahnhafte Störung. Ibrahim A. hörte Stimmen und soll sich mit Anis Amri verglichen haben, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. 

Recherchen von CORRECTIV bestätigen: Es gab reichlich Warnsignale. Aber offenbar schaute niemand hin. Nach seiner Einreise im Dezember 2014 wird A. im Landkreis Euskirchen untergebracht, später zieht er zunächst nach Kiel und dann nach Hamburg. An allen drei Orten begeht er schwere Straftaten, ermittelt wurde gegen ihn wegen Körperverletzung, sexueller Nötigung, Drogendelikten. Im Juli 2021 wird er als Wohnungsloser in einer Flüchtlingsunterkunft in Kiel aufgenommen, Ende November bekommt er dort Hausverbot. Er soll Bewohner bedroht und mit einem Messer hantiert haben. Im Januar 2022 sticht A. vor einer Obdachlosenunterkunft in Hamburg einen Mann mit einem Messer nieder.

Wieso fiel den Behörden nicht auf, dass da offenbar jemand wie in einer Spirale rotiert? Der Sprecher des Landkreises Euskirchen antwortet nicht auf konkrete Fragen, sondern schreibt allgemein: Asylsuchende könnten einen Antrag auf Psychotherapie stellen und sich dann selbst einen Therapeuten aussuchen, ebenso wie Kassenpatienten, bei Bedarf helfe das Gesundheitsamt. Er könne „im Namen der Kollegen versichern“, schreibt der Sprecher, „dass bei einem Antrag von ,Ibrahim A.‘ im Gesundheitsamt genauso verfahren worden wäre.

Die Antwort wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Wieso kam A. also dort nie an? Auf Nachfragen antwortet der Sprecher nicht mehr, beruft sich auf die „ärztliche Schweigepflicht”.

Auch in Hamburg, wo A. zuletzt lebte, gibt es von offizieller Seite keine Informationen zu dem Fall. Die Innenbehörde verweist auf die Justizbehörde, aber auch diese antwortet nicht, wegen des laufenden Verfahrens. Nur in Kiel ist man offener: Eine Sprecherin schreibt auf CORRECTIV-Anfrage: „Die psychische Betreuung von Geflüchteten ist in der Tat ein großes Problem.“ Bei A. habe man in Kiel „nur wenige Anhaltspunkte“ für eine Erkrankung gesehen. Das Hausverbot in der Unterkunft „wegen zahlreicher Vorfälle“ sei ein Hinweis gewesen. Nur griff den niemand auf. Denn dann sei Ibrahim A. eben auch schon wieder weg gewesen.

A. lebte wenige Jahre vor der Tat mehrere Monate in einer Unterkunft in Kiel. Karin Helmer ist Geschäftsführerin der Stadtmission Kiel. Zu dem konkreten Fall kann sie nichts sagen. Aber sie sagt: „Das ist bei uns nicht die Ausnahme. Das ist unser Alltag.“ 

Auch in der Unterkunft in Kiel leben deutsche Wohnungslose und Geflüchtete, psychisch erkrankt seien viele davon. Sie sagt: Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen haben gerade eine Erhebung gemacht. Dabei kam heraus: Einer von fünf Bewohnern stelle eine Gefahr für sich oder für andere dar.  Dass Bewohner ankommen und aggressiv werden, komme vor: „Ich erkläre mir das so, dass die so perspektivlos sind. Es gibt ja keinen bezahlbaren Wohnraum. Die haben gar keine Chance, da wieder rauszukommen.“

Helmer sagt, wer einmal in der Unterkunft sei, der bleibe oft lange. Notunterkünfte sind jetzt Dauerunterkünfte. Wem sie ein Hausverbot erteilen, den müssen sie einen Tag später wieder reinlassen. Sicher können sie die Polizei oder den Sozialpsychiatrischen Dienst rufen, wenn ein Bewohner ausflippt. Aber sobald der sich beruhigt, darf er wieder zurück. Denn dann stellt er ja keine akute Gefahr mehr dar. Wenn sie sich etwas wünschen dürfte, sagt Karin Helmer: „Eine menschenwürdige Ausstattung in den Dauerunterkünften und fachliches Personal, um den Menschen auch helfen zu können: Sozialarbeiterinnen, Suchttherapeuten und Dolmetscherinnen.“

PROBLEM 2: Wer hilft, wenn man Hilfe nötig hat?

Keine Hilfen, keine Ressourcen, keine genauen Zahlen – wer länger zu dem Thema recherchiert, bekommt den Eindruck: Die Behörden ducken sich weg. Mehrere Landesinnenministerien verweisen auf Anfrage an die Psychosozialen Zentren. Dort arbeiten Therapeuten, Sozialarbeiterinnen, Dolmetscher, es gibt Therapieangebote. 

Fachleute sagen: Die Psychosozialen Zentren leisten oft hervorragende Arbeit. Die Länder führen sie gerne an, vielleicht, um zu vermitteln, dass in Deutschland alles getan wird, um traumatisierten Geflüchteten  zu helfen.

Dagegen stehen die Zahlen: Es gibt in ganz Deutschland gerade mal 47 Psychosoziale Zentren. Pro Bundesland also im Schnitt weniger als drei. 

Die wenigen Zentren haben sich in einer bundesweiten Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, der BAfF mit Sitz in Berlin. Der Verband hat neulich ausgerechnet: Von allen Schutzsuchenden, die potenziell therapeutische Hilfe brauchen, können sie in ihren Zentren gerade mal vier Prozent versorgen. 

„Das ist doch ein haarsträubendes Versagen des Staats“, findet BAfF-Geschäftsleiter Lukas Welz. „Deutschland ist dazu verpflichtet, Menschen, die Folter überlebt haben, menschenwürdig zu versorgen – das steht in verschiedenen Abkommen und Gesetzen, zu denen sich der Staat bekennt.“

Im Saarland nur Platz für jeden Zweihundertsten

Eine Aufschlüsselung aus dem Jahr 2021 zeigt, dass die Versorgung je nach Bundesland unterschiedlich schlecht ist: Während in Berlin immerhin jeder Zehnte, bei dem ein Therapiebedarf auffiel, von einer solchen Stelle versorgt wurde, war es in Nordrhein-Westfalen nur etwas mehr als jeder Hundertste. Und im Saarland nur jeder Zweihundertste.

Für die Betroffenen ist das verheerend. „Man könnte den meisten von denen unterstellen, dass sie hier Fuß fassen“, sagt der Würzburger Arzt Joost Butenop. „Wenn man sie lässt. Aber sie werden nicht gelassen.“ Generell könne der Mensch auch schwere Traumatisierungen bewältigen – wenn es danach im Leben weitergeht. Aber bei vielen Geflüchteten geht es nicht weiter, etwa weil ein unklarer Aufenthaltsstatus oder die Sorge um die Angehörigen sie hindern. „Wenn man drei, vier Jahre hier sitzt und gar nichts geht, dann ist das etwas, was ständig belastet: Man kann das als konstante Retraumatisierung beschreiben.“

Das heißt: Es ist nicht nur, dass Deutschland die Menschen mit ihren mitgebrachten Traumata sitzen lassen. Sondern es ist für weitere Schäden verantwortlich.   

Unter dem Strich ist es also in Deutschland – dem Land, in dem nicht nur AfD, sondern mittlerweile auch prominente Köpfe der CDU vom „Pull-Faktor medizinische Versorgung“ sprechen – so: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemandem auffällt, dass ein Schutzsuchender dringend seelische Hilfe braucht, ist schon niedrig. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass ihm dann noch jemand hilft, ist verschwindend gering.

Der Fall einer Mutter, die ihr Kind nicht versorgen konnte

Die seelisch kranke Schutzsuchende in diesem Fall war 24, als endlich auffiel, dass sie Hilfe brauchte. Sie hatte damals schon sieben Jahre in Deutschland verbracht, jetzt lebte sie mit Duldungsstatus in einer Flüchtlingsunterkunft.

Die Frau, deren Heimatland aus Anonymisierungsgründen hier nicht stehen soll, war als Zwölfjährige in der Heimat Sexsklavin eines Mannes geworden – mit dem sie zusammen nach Deutschland floh. Als sie aufbrechen, war eine enge Verwandte der Frau mit auf dem Weg – doch sie verdurstete auf dem Weg durch die Wüste. Die Frau musste den Tod ihrer nahen Verwandten mit ansehen.

2020 bekam sie, nach Jahren in Deutschland, ein Kind vermutlich von jenem Mann, der sie auch hier weiter missbrauchte. Sie lebte völlig zurückgezogen in ihrem Zimmer, in einer Unterkunft in Baden-Württemberg, unter der Kontrolle jenes Mannes und verließ es so gut wie nie.

In der Unterkunft fragte über lange Zeit niemand nach, wie es eigentlich dem Baby geht. Erst als das Kind drei Jahre alt war, wurden Traumaexperten der Uni Konstanz über Umwege auf den Fall aufmerksam. Sie sprachen mit der Mutter und stellten fest: Ihr Kind hatte kein einziges Spielzeug – und sich noch nie außerhalb des Zimmers frei bewegt. Seine Mutter hielt ihr Kind wie in einem Gefängnis. Das Kind, stellten die Forscher fest, sei in „einem sozial und psychisch verwahrlosten Zustand und auf dem Entwicklungsstand eines maximal 1,5-jährigen Kindes“.

Die Diagnose ergab, dass die Frau unter einer schweren Angststörung litt – was dazu führte, dass sie Hilfe, die ihr vorher angeboten worden war, abgelehnt hatte. Ihr Zimmer hatte sie nur verlassen, wenn sie einkaufen musste. Ihr Kind hatte sie dann in einen Anhänger geschnallt – und diesen zugesperrt und das Kind vor dem Laden zurückgelassen, während sie einkaufte. Das Kind war mit drei Jahren schon so traumatisiert, dass es häufig schrie und um sich schlug – und so aggressiv war, dass es kaum Kontakte zu anderen Kindern aufbauen konnte.

Den Fall schildert Katalin Dohrmann. Sie leitet den Fachbereich Psychologie am Kompetenzzentrum für Psychotraumatologie an der Universität Konstanz und das Projekt „Furchtlos“, bei dem es darum geht: Mitarbeiterinnen von Flüchtlingsheimen, Ehrenamtler und alle, die in der Flüchtlingshilfe arbeiten, darin zu schulen, Traumatisierungen zu erkennen – damit solche Fälle sich in Zukunft vermeiden lassen.

PROBLEM 3: Schon für Deutsche sind Psychotherapeuten knapp – für Geflüchtete erst recht

Psychotherapeuten sind in Deutschland Mangelware.

Das gilt nicht nur für Geflüchtete, es gilt für alle Menschen im Land: Wer einen Therapeuten sucht, telefoniert sich oft die Finger wund und muss in der Regel monatelang auf einen Behandlungsplatz warten. Im Schnitt warten seelisch Kranke in Deutschland fünf Monate auf einen Therapieplatz. 

Für Geflüchtete ist es noch deutlich schwieriger. Das liegt zum einen an der Sprachbarriere: Man muss das große Glück haben, eine Therapeutin zu finden, die zum Beispiel Arabisch spricht – oder man braucht einen Dolmetscher, der aber zusätzlich gefunden werden und den irgendjemand bezahlen muss. Und es braucht das große Engagement von Therapeuten, die bereit sind, sich den Stress mit dem Papierkrieg anzutun. Denn die Therapie eines Geflüchteten bedeutet bürokratischen Aufwand. 

Dazu aber haben viele weder Zeit noch Kraft. Und warum sollten sie es sich auch antun, wenn ihre Wartelisten schon übervoll mit seelisch kranken Deutschen sind? 

Zum anderen liegt es daran, dass längst nicht jede Therapeutin für das heikle Feld der Traumatherapie ausgebildet ist, in der oft deutlich härtere Fälle behandelt werden müssen als in gängiger Psychotherapie. Die Zahl der Fachleute ist viel zu klein.

An einem Tag im Januar hielt es Olena Buleichenko nicht mehr aus. Sie sitzt in einem Café nahe dem Hamburger Bahnhof, eine Physiotherapeutin und Universitätsdozentin für Sport- und Rehabilitationswissenschaften aus Kiew, 61 Jahre alt, sie zieht ihr Handy aus der Tasche, über das Display flackern Fotos von früher, vor dem Krieg da sind ihre Haare lang, dicht und braun. Nun sind sie grau und streichholzkurz. „Das war ein Moment, wo ich nicht mehr konnte“, sagt sie. „Mein Kopf war so schwer, so schwer von den ganzen Gedanken und den Sorgen. Deshalb habe ich meine Haare abrasiert, ich dachte, dann wird er leichter.“  

Olena Buleichenko
Olena Buleichenko: „Mein Kopf war so schwer. Ich dachte, wenn ich die Haare abrasiere, wird er leichter.“ Foto: Ivo Mayr

Die Haare waren dann weg. Die Gedanken aber nicht. Die blieben. Olena Buleichenko floh nach Deutschland, als der Krieg begann, mit ihrer Tochter und ihren Enkeln. Was sie nicht loslässt: Die Angst um ihren Sohn, der an der Front kämpft, der Horror der Flucht, die Trauer um die Verwandten, die getötet wurden, und die Angst, es hier in Deutschland nicht zu schaffen: Olena Buleichenko steht enorm unter Druck, sie sagt, sie will ein guter Flüchtling sein, alles richtig machen, Deutsch lernen. Aber es bleibt nichts bei ihr hängen. Sie, die in der Ukraine an einer Hochschule lehrte, kann sich nun nicht einmal die simpelsten Vokabeln merken, neulich sagte ihr Lehrer: „Wie, du lernst schon so lange und kannst nicht ein Wort sagen?“

Sie erzählt das und weint. Immer wieder stockt sie, weil ihre Stimme bricht. Sie hängt fest in einem Teufelskreis: Gerne würde sie durchstarten, arbeiten, in Deutschland werden Physiotherapeuten gebracht, aber das geht nicht ohne Deutsch.

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Aber das mit der Sprache klappt nun nicht, ihr Kopf ist zu, und das macht sie umso verzweifelter. Eine Therapie könnte helfen. Aber Buleichenko weiß nicht mal, wo sie anfangen soll zu suchen. Als sie aus Kiew flüchtete, flogen Kampfjets über sie hinweg, und Raketen schlugen in den Häusern ein. Jetzt packt sie die Panik, wann immer sie in ein Auto steigt. Die Angst ist mächtig, und sie kommt vor allem unterwegs, auch das hindert sie daran, Hilfe zu suchen: „Wenn ich irgendwo hin soll, kriege ich Panikattacken“, sagt sie, „wo soll ich auch hin, und wen soll ich auch fragen?“

Vor rund sechs Jahren hat die Krankenkasse Barmer GEK untersucht, wie häufig es Asylantragsteller in Deutschland zu Psychotherapeuten in die Behandlung schaffen. Es ist die einzige systematische Erfassung, die es dazu bis heute gibt. Das Ergebnis: Von 1.000 Geflüchteten waren gerade mal sechs in Therapie. Bei den regulär krankenversicherten Deutschen wurden viermal so viele behandelt, obwohl die seelischen Krankheiten im Schnitt deutlich seltener und weniger ernst waren.

„Egal, wo ich frage, immer heißt es: Warten Sie, warten Sie

In vielen Fällen sind es nicht zugelassene Therapeuten, die helfen. Sondern ehrenamtliche Helfer. Viele leisten wertvolle Hilfe, oft sind sie die einzige Adresse. Aber das kann auch gehörig schief gehen, wie der Fall von Yuliia Hubina zeigt. „Wenn ich darüber nachdenke, tut es mir sehr weh, dass mein Sohn und ich keine psychologische Hilfe bekommen“, sagt sie. Yuliia Hubina stammt aus Charkiw, der heftig beschossenen Metropole im Osten der Ukraine, eine alleinerziehende Mutter, Lehrerin. „Immer wieder hat man mir gesagt: Es gibt riesige Warteschlangen. Egal, wo ich frage, immer heißt es: Warten Sie, warten Sie.“

Yuliia Hubina hat vier Wochen lang mit ihrem Kind und ihrer Katze die Nächte  im Keller verbracht, während ringsum Putins Bomben einschlugen. Dann machte sie sich auf den Weg, mit Stationen in verlassenen Dörfern und überfüllten Notlagern. 

Yuliia Hubina steht mit ihrer Katze auf dem Arm vor der Kulisse des Hamburger Hafens.
Yuliia Hubina flüchtete vor über einem Jahr mit ihrem Sohn und ihrer Katze aus der Ukraine. Sie sagt: Eigentlich brauchen alle drei Hilfe. Sie findet keine. Foto: Ivo Mayr

Wie es ihr heute geht? Yuliia Hubina schluckt, guckt an die Decke, atmet tief durch. Sie sagt, sie hat sofort gemerkt, dass sie Hilfe brauchen, sie selbst, ihr Kind, sogar die Katze. Sie hat überall herumtelefoniert und Hilfe gesucht, weil sie merkte, dass sie nicht mehr weiterkam. Bei einem Verein in Hamburg wurde ihr psychologische Nothilfe angeboten, eine russischsprachige Beraterin sagte ihr vier Sitzungen zu.

(Beim Video: zum Anschauen mit Untertiteln bei YouTube „Untertitel“ auswählen)

Zunächst ging es um die Diagnostik, beim dritten Mal sagte die Frau, sie habe ihre Notizen verloren. „Und beim letzten Treffen meinte sie, sie habe im Internet ein Video von einem russischen Theologen gefunden, der mir vernünftig erklären kann, warum Putin die Ukraine angegriffen hat.“  Yuliia Hubina sieht blass und müde aus. Sie sagt, sie wisse nicht, ob die Frau überhaupt Psychologin war; jedenfalls sei es schwer, nicht aufzugeben, sagt sie: „Nun warte ich weiter auf professionelle Unterstützung.“

Unterversorgung bei jenen, die zur Gefahr für andere werden können

Es gibt in Deutschland nicht nur zu wenige Therapeuten, die ambulant seelisch Kranke versorgen. Es gibt auch eine dramatische Unterversorgung mit Plätzen für die stationäre Behandlung psychisch Kranker. Laut Statistischem Bundesamt hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Patienten, die vollstationär behandelt werden müssen, etwa verdoppelt, auf 810.000 Menschen im Jahr 2022. Die Zahl der Klinikbetten, die für ihre Versorgung zur Verfügung stehen, ist im selben Zeitraum aber gesunken. Viele Psychiatriestationen sind deshalb heillos überlastet.

Bezogen auf psychisch kranke Geflüchtete ist ein Problem in diesem Zusammenhang dies: Wenn jemand aufgrund seiner psychischen Krankheit als gewaltbereit gilt, aber noch keine Gewalt angewendet hat, muss er nach deutschem Recht in eine solche geschlossene Einrichtung eingewiesen werden. Aber wie soll das gehen, wenn es doch keine freien Plätze gibt?

Besonders prekär ist die Lage auch im sogenannten Maßregelvollzug: psychiatrischen Haftkrankenhäusern, in die jene eingewiesen werden sollen, die gewalttätig wurden, wegen ihrer Krankheit aber als schuldunfähig gelten. Paranoide Schizophrene etwa, die Wahnvorstellungen haben, Stimmen hören. Die Anstalten sind aber völlig überfüllt, die Wartezeiten lang. Stattdessen bleiben die Straftäter oft im normalen Regelvollzug, wo gegen ihre Störung nichts oder wenig getan wird.

Es gibt immer wieder Fälle, die Schlagzeilen machen, weil Menschen dabei zu Schaden kommen, Einzelfälle, weil die meisten psychisch Erkrankten kaum gewalttätiger sind als der Durchschnitt. Wahr ist aber auch: Bei besonders schweren Delikten wie Mord oder Totschlag liegt die Quote der psychisch Erkrankten weitaus höher als bei seelisch Gesunden. Depressionen oder Traumata stellen kein Risiko dar. Gefährlich sind Wahnerkrankungen wie etwa Schizophrenie.

PROBLEM 4: Selbst wenn man einen Therapeuten findet, wird die Behandlung noch längst nicht bezahlt

In Deutschland gilt: Wer Asyl beantragt, bekommt in aller Regel keine Krankenkassenkarte, mit der er einfach zu einem Facharzt oder Therapeuten gehen dürfte. 

Stattdessen müssen die Betroffenen für jede planbare Behandlung erst einen Antrag ans Sozialamt in ihrer Stadt oder Gemeinde stellen. Erst mit dem Okay der Behörde dürfen sie zum Facharzt gehen. Das gilt übrigens für Zahnersatz wie für Traumatherapie. 

In vielen Sozialämtern ist man alles andere als freigiebig damit, Therapieplätze für Geflüchtete zu bewilligen – so schildert man es zumindest beim Verband der psychosozialen Beratungsstellen. Geflüchtete, berichten sie aus ihrer Beratungsarbeit, müssten den Amtsmitarbeitern sehr detailliert ihre teils grausamen Erlebnisse schildern. Aber das machen viele nicht, aus Scham oder aus Angst. Auch Ayman Ghazi wollte seine Geschichte am liebsten für sich behalten; sein Name ist geändert, weil seine Sicherheit bedroht ist, selbst in Deutschland. „Wenn man einen Psychologen braucht – das ist nicht normal in unserem Land. Man kann das nicht einfach machen“, sagt er. „Das bedeutet, du bist verrückt.“

Ein junger Mann mit schwarzer Jacke steht in einem Park, Blätter verdecken sein Gesicht.
Ayman Ghazi sagt: „Wenn man einen Psychologen braucht – das ist nicht normal in unserem Land. Man kann es nicht einfach machen. Das bedeutet, du bist verrückt.“ Foto: Ivo Mayr

Ghazi stammt aus dem Irak. Vor knapp zehn Jahren flüchtete er mit seiner Familie in die Türkei. Dort wäre er gerne geblieben. Aber er ist schwul. Das fand seine Familie heraus, ein Angehöriger beschloss, ihn zu töten, um die „Familienehre zu schützen“.  

Ayman Ghazi, 28 Jahre alt, sitzt jetzt in einem Raum auf einer Couch am Fenster, die Beine angezogen, den Kopf gesenkt. Es ist das Büro der Psychologin Danie Meyer in Köln, die in dieser Geschichte schon einmal auftauchte. Sie sagt: „Als ich ihn kennenlernte, zeigte er alle Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er konnte nicht schlafen, war hyper-wachsam, suizidal, konnte keinen Augenkontakt halten.“ Meyer schaut zu ihm herüber, lächelt warm und sagt: „Jetzt geht es dir immer noch miserabel, aber immerhin kannst du klar darüber sprechen.“ Bis Patienten wie Ayman Ghazi eine ganze Nacht durchschlafen können, dauere es oft Jahre, sagt sie.

Seit Ende 2021 lebt Ghazi in Deutschland. Er kam zunächst in eine Gemeinschaftsunterkunft in Düren. Zu den alten Traumata kamen akute Bedrohungen. Ghazi wurde angefeindet, weil er schwul war, seine Habseligkeiten wurden gestohlen, sein Zimmer verwüstet. „Ich hatte wirklich Angst vor den Menschen“, sagt er. „Ich habe meine Familie verloren, war ganz alleine in einer schlechten Zeit, und du kannst weitermachen, aber es kommt die Zeit, da kannst du nicht mehr.“

Bei einer Sozialarbeiterin in der Unterkunft bat er um Hilfe. Die riet ihm: Geh an die frische Luft, treibe Sport. Das mag bei schlechter Laune helfen, aber nicht in einer akuten psychischen Krise. Ghazi wandte sich an einen Arzt, der gab ihm Schlaftabletten. Auch das alleine, sagt Meyer, könne ein so schweres Trauma nicht lindern: „Das ist wie ein Pflaster auf eine Schusswunde zu kleben.“

Schließlich verwies ihn eine Beraterin der Caritas an Danie Meyer. Er erinnert sich an das erste Treffen. „Ich dachte, ich habe Angst, ich kann das nicht erzählen“, sagt er, „dann habe ich alles erzählt.“ 

Eine Psychologin arbeitet kostenlos – weil die Stadt kein Geld hat

Danie Meyer ist klinische Psychologin, aber keine zugelassene Therapeutin. Die Methode, die sie nutzt, heißt Narrative Expositionstherapie. Grob gesagt ist es eine Art Notfall-Intervention: Der Patient erzählt nach und nach, geführt wie in einem Interview, seine Geschichte, die Therapeutin erfasst sie in einem Dokument. Meyer sagt, es versetzt auch schwer Traumatisierte zunächst in die Lage weiterzuleben. Es ist keine Therapie. Es macht die Betroffenen dafür bereit, überhaupt eine Therapie machen zu können.

Ayman Ghazi sagt: „Sie ist für mich nicht nur Psychologin, sondern ich habe bei ihr eine Familie gefunden. Sie hat mir viel geholfen. Wegen ihr habe ich jetzt ein gutes Leben.“

Es ist eine positive Geschichte, aber es gibt eine Kehrseite: Dass Ayman Ghazi überhaupt geholfen werden konnte, lag daran, dass Danie Meyer kostenlos arbeitet. 

Danie Meyer
Die Psychologin Danie Meyer hilft Asylsuchenden, die sonst keine Unterstützung bei der Bewältigung ihres Traumas bekommen. Foto: Ivo Mayr

Denn in Köln ist, wie in vielen anderen Städten und Gemeinden auch, dafür kaum Geld da. Meyer hat CORRECTIV E-Mails der Stadt Köln gezeigt. Sie zeigen, wie eine Mitarbeiterin der Stadt Köln sie über Monate hinweg mehrmals anschrieb und sie fragte: Können Sie sich noch mal um einen Geflüchteten kümmern? Geld gebe es dafür aber leider nicht. Meyer sollte das bitte kostenlos machen. Was sie tatsächlich immer wieder tat.

Therapie für schwer traumatisierte Geflüchtete gibt es oft nur, wenn die Verantwortlichen in den Kommunen aus ihrer Sicht kreative Lösungen finden und wie in Köln Therapeuten bitten, doch bitte kostenlos zu arbeiten. 

Wenn es schlecht läuft, landen die Geflüchteten in einer psychologischen Spirale: Erst die nicht verarbeiteten Traumata, dann die Unsicherheit in Deutschland. Und oben drauf kommt das Gefühl, mit all dem alleine zu sein. Der Mainzer Arzt, Professor für Sozialmedizin und Vorsitzende des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ Gerhard Trabert erklärt das so: „Wenn jemand mit seinem primären Trauma nicht einmal die Möglichkeit hat, über das Erlebte zu berichten, dann traumatisiert ihn das nochmal, und das führt zu einer Chronifizierung, die noch gravierender ist als die Traumatisierung an sich. Das ist dann, was uns angeht, nicht nur ein Unterlassen, sondern wir sind aktiv an der tertiären Traumatisierung beteiligt.“

Der Fall Mouhamed Dramé 

Am 8. August 2022 starb der 16-jährige Mouhamed Dramé, auf eigene Faust aus dem Senegal geflüchtet, in der Dortmunder Nordstadt. Der Jugendliche hatte apathisch in einem Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung gehockt und sich ein Messer vor den Bauch gehalten. Jemand rief die Polizei, zwölf Beamten rückten an. Diese fühlten sich so bedroht, dass sie die Situation eskalierten: Der Einsatzleiter befahl „vorrücken und einpfeffern“, Mouhamed Dramé wurde mit Pfefferspray völlig eingenebelt und fing an, sich zu bewegen – wie und wohin genau, ist schwer zu rekonstruieren – jedenfalls eröffnete einer der Polizisten das Feuer auf den Jugendlichen, traf ihn mit fünf Schüssen, Mouhamed Dramé starb wenig später im Krankenhaus.

Die Süddeutsche Zeitung hat recherchiert: Jeder zweite seit 2010 von der Polizei erschossene Mensch könnte psychisch krank oder in einer psychischen Ausnahmesituation gewesen sein.

Abgesehen davon, dass die Beamten völlig überreagierten, stellt sich die Frage: Wieso konnte es überhaupt zu der Szene kommen – obwohl bekannt war, dass Dramé schwer psychisch krank war? Warum wurde er nicht angemessen versorgt?

CORRECTIV hat zur Frage recherchiert, was in seinem Fall schief ging. Dramé lebte nach seinem Ankommen in Deutschland zunächst im Rhein-Pfalz-Kreis bei Mannheim – weswegen die dortige Kreisverwaltung dafür zuständig gewesen wäre, ihn zu therapieren und sicher unterzubringen. Wir haben dort angefragt, warum das nicht geschah, sondern der unbegleitete minderjährige Geflüchtete nach Dortmund weiterziehen konnte. 

Die Verwaltung antwortete uns: „Zahlreiche unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind durch die Flucht traumatisiert. Der Therapiebedarf ist enorm und übersteigt bei weitem die verfügbaren Therapieplätze. Es gibt lange Wartelisten – und die Tatsache, dass Mouhamed D. nur französisch und die senegalesische Landessprache Wolof sprach, erschwerte in diesem Fall die sofortige Anbindung an einen geeigneten Therapeuten.“

 

Die Rolle der Politik

Warum kam es dazu, dass Geflüchtete in Deutschland in der Regel keinen Zugang zum regulären Gesundheitssystem haben und nicht gesetzlich krankenversichert sind?

1993, damals war Horst Seehofer von der CSU Bundesgesundheitsminister, verabschiedete die Bundesregierung ein Gesetzeswerk, das zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Zwei-Klassen-Gesellschaft schuf; bei medizinischer Versorgung und Sozialhilfe: das Asylbewerberleistungsgesetz.

Es sorgt seither dafür, dass Schutzsuchende und Geduldete keinen Zugang zum regulären Krankenversicherungssystem haben und weniger Sozialhilfe beziehen als Deutsche. Das Anliegen war damals: Deutschland sollte nicht zu attraktiv als Zufluchtsland werden.

Die Debatte also, die aktuell die AfD und zum Beispiel auch CDU-Chef Friedrich Merz ankurbeln, ist eigentlich schon seit 20 Jahren per Gesetz überholt: Dass Asylantragsteller Deutschen uns die Plätze beim Zahnarzt oder Therapeuten wegnehmen, ist äußerst unwahrscheinlich – weil die meisten von ihnen diese Behandlungen erst aufwändig beantragen müssen. Wenn sie das überhaupt schaffen, obwohl sie kein oder kaum Deutsch sprechen. Lediglich ukrainische Schutzsuchenden sind von dieser Regelung ausgenommen und bekommen unmittelbaren Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung.

So klar die Beweislage dafür ist, dass den seelisch kranken Geflüchteten und der Gesellschaft geholfen wäre, würden sie besser versorgt, umso unwahrscheinlicher ist es, dass das in einer politischen Großwetterlage, in der die AfD immer höhere Zustimmungswerte in Umfragen verzeichnet, passiert.

In der letzten Legislaturperiode hatte sich die Bundestagsfraktion der Grünen zuletzt an das heikle Thema gewagt, ob man nicht Geflüchtete doch in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung aufnehmen könnte – damit die Chancen, dass sie unter anderem mit Psychotherapie versorgt werden, steigen. Die damalige große Koalition aus Union und SPD schmetterte das Vorhaben ab.

Doch jetzt, wo die Grünen mit an der Regierung sind, ist es still um das Thema geworden, obwohl gerade so viele Hilfesuchende ins Land kommen wie selten zuvor. Warum? Aus der Fraktion der Grünen heißt es: Mit der FDP als Koalitionspartner sei eine bessere medizinische Versorgung Geflüchteter nicht zu machen. Zu groß sei die Angst, dass man auf diese Weise der AfD noch mehr Zulauf verschaffe. 

Wie geht es weiter?

Das Problem ist in der Politik bekannt, seit langem. Gerade kommen so viele Schutzsuchende ins Land wie lange nicht.

Trotzdem plant niemand in verantwortlicher Position, dafür zu sorgen, dass mehr Geflüchtete therapiert werden. Im Gegenteil. Die Kommunen sagen, sie haben kein Geld, die Länder ebenso. Und der Bund gab Ende Juli bekannt, dass er seine Zuschüsse für die Psychosozialen Zentren kürzen will – als Teil seiner Sparpläne, um den Bundeshaushalt für das kommende Jahr weniger zu belasten.

Ibrahim Willekes neues Leben läuft inzwischen recht gut; zumindest an den meisten Tagen. Er hat die deutsche Staatsangehörigkeit, hat einen Deutschen geheiratet. Er hat es geschafft, aber er weiß, dass er eine Ausnahme ist „So wie es bei mir lief“, sagt er, „das passiert nur in einem von 1000 Fällen.“

Der junge Iraker Ayman Ghazi sagt, er hat nun die Kraft, neue Pläne zu fassen. Er will studieren, Sozialarbeit, nur seine Deutschkenntnisse reichen noch nicht. „Ich suche einen Sprachkurs“, sagt er. „Dann geht es weiter.“

Vor der Tür von Danie Meyers kleinem Büro in Köln stehen immer neue Geflüchtete; meist berät sie acht oder neun, die jede Woche zu ihr kommen, ohne Bezahlung, sagt die Psychologin. „Inzwischen stehe ich selbst kurz vor dem Burnout.“

Yuliia Hubina, die Lehrerin aus Charkiw, versucht sich selbst zu helfen: Sie schreibt Märchen und Kurzgeschichten, als eine Art Eigentherapie. Sie sagt: So kommt sie von Tag zu Tag. Immerhin.

Die Physiotherapeutin Olena Buleichenko hat aufgegeben; sie hat bei einigen Vereinen und Hilfe-Organisationen nach Hilfe gefragt, ohne Erfolg, nirgends gab es freie Plätze. Nun will sie nicht mehr, sie sagt: „Das Thema ist für mich abgeschlossen.“

Redigatur: Gesa Steeger, Justus von Daniels. Faktencheck: Miriam Lenz. Illustration: Mohamed Anwar. Fotos: Ivo Mayr. Video: Philipp Schulte, Kolja Zinngrebe.


Der Name des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ war in einer früheren Fassung fehlerhaft angegeben und wurde nachträglich korrigiert.