CumEx-Files 2.0
CumEx-Files 2.0 – Der skandalöse Steuerraub geht weiter
Es ist der größte Steuerraub der Geschichte. Drei Jahre nach Veröffentlichung der CumEx-Files zeigt eine internationale Medienkooperation unter Leitung von CORRECTIV, wie Steuerzahler weltweit um 150 Milliarden Euro betrogen wurden. Ein Insider berichtet über die grenzenlosen Deals, Finanzexperten halten den Steuerbetrug noch immer für möglich und Behörden lehnen eine Verantwortung ab.
Er wurde reich, mit unserem Geld. Jetzt lebt er in Dubai. Manche sagen: Er versteckt sich.
Der Mann, der über eine Milliarde Euro aus den Steuerkassen mehrerer Staaten geraubt haben soll, sitzt jetzt in einem Restaurant mit Blick auf einen saftgrünen Golfplatz. Draußen schiebt sich die Hitze durch die Wüste. Weiter hinten erhebt sich die Skyline von Dubai. Der Investmentbanker Sanjay Shah ist hier, um seine Version der Geschichte zu erzählen. Staatsanwälte in mindestens vier Ländern ermitteln gegen ihn wegen sogenannter Cum-Ex-Deals, auch in Deutschland. Allein in Dänemark geht es um einen siebenstelligen Betrag. Shah aber sagt, er sei nicht schuld: „Wenn da auf einem großen Schild ,Bitte greifen Sie zu‘ steht – dann greife ich zu oder jemand anders tut es.“
Unbeirrt wiederholt er: Alles, was er tat, sei legal gewesen.
Selbstverständlich gilt auch für Menschen wie Shah die Unschuldsvermutung. Allerdings dürfte es eng für Shah werden, denn inzwischen hat sich der Bundesgerichtshof in Deutschland mit den Deals befasst, die Shah für legal hält. Das Ergebnis des Bundesgerichtshofs in den anderen Fällen war eindeutig: Steuerhinterziehung. Cum-Ex-Geschäfte sind in der Regel illegal. Strafbar.
Der Banker Shah zählte lange zu den Gewinnern eines gewaltigen, wohl betrügerischen Verwirrspiels, bei dem ein Netzwerk aus Banken, Beraterinnen und Investoren mit Tricks, Leerkäufen und ausgeklügelten Handelsmustern Milliarden öffentlicher Gelder ergaunerten – bis auf wenige Ausnahmen straflos, weil viele Staaten sie quasi gewähren ließen.
Die Betrüger agieren auf einem rasanten, globalisierten Markt mit hochkomplexen Regeln. Auf der anderen Seite stehen überlastete Behörden, schwerfällige Verfahren, starre Strukturen und das Zuständigkeiten-Patchwork der Verwaltung.
Im Jahr 2018, als viele glaubten, Cum-Ex-Geschäfte seien vor allem ein deutsches Problem, hat ein Team von 38 Reporterinnen und Reportern unter der Leitung von CORRECTIV enthüllt, dass die Betrüger in ganz Europa ihre Geschäfte machten. Doch schon damals dämmerte vielen der Verdacht, dass das nicht das gesamte Ausmaß war.
Drei Jahre nach der ersten Cum-Ex-Recherche hat CORRECTIV wieder eine Gruppe von 30 Journalistinnen und Journalisten zusammengebracht – diesmal von allen fünf Kontinenten. Nun lässt sich klar belegen: Das Cum-Ex-System ist global. Kein Land kann sich sicher fühlen.
2018 haben wir mithilfe von Fachleuten eine Summe errechnet, um den Schaden in Europa zu beziffern: 55,2 Milliarden Euro haben Staaten mit steuergetriebenen Deals wie Cum-Ex-Geschäften verloren.
Unsere Recherche belegt, dass die tatsächliche Dimension des Cum-Ex-Skandals noch deutlich größer ist. Die Summe, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern weltweit geraubt wurde, geht weit über die 55,2 Milliarden hinaus: Nach Berechnungen von Steuerfachleuten dürften es mindestens 150 Milliarden Euro sein. Fast so viel Geld wie die EU in einem Jahr ausgibt. „Der Schaden könnte sogar noch höher liegen“, sagt der Wirtschaftsprofessor Christoph Spengel, der weltweit Transaktionsdaten zusammen mit seinem Team ausgewertet hat, um die Summe zu errechnen.
Gesamter Steuerschaden
(in Mrd. Euro, 2000–2020)
Spengels Daten zeigen aber noch etwas Beunruhigendes: In Deutschland geht der Raub offenbar weiter, und zwar durch Cum-Cum-Deals, einer speziellen Form steuergetriebener Geschäfte. Der Steuerexperte Spengel sagt: „Cum-Cum-Geschäfte wurden lediglich erschwert, sie sind weiterhin möglich.“
Obwohl ein Gesetz seit 2016 genau das verhindern soll. Obwohl Politiker seitdem beteuern, dass sie nicht mehr möglich sind.
Das Bundesfinanzministerium (BMF) schreibt dazu per E-Mail an CORRECTIV und ARD-Magazin „Panorama“, dass es keine Hinweise zu konkreten Cum-Cum-Fällen nach 2016 gefunden habe. Es stehe in regelmäßigem Austausch mit den Ländern zu Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäften. Daher, schreibt das von SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz geführte Ministerium, lassen sich die von Spengel berechneten Steuerschäden „auf Grundlage der Angaben der für die Steuerverwaltung zuständigen Länder nicht bestätigen.“
Das Finanzministerium von Scholz scheint nicht die einzige Behörde zu sein, die im Kampf gegen steuergetriebene Deals versagt. Wir haben über das Informationsfreiheitsgesetz Einsicht in Akten beantragt und so einen Einblick bekommen, wie europäische Behörden hinter den Kulissen mit der Problematik der Cum-Ex-Geschäfte und anderer steuergetriebener Deals umgehen.
Das Bild ist auch drei Jahre nach den Cum-Ex-Enthüllungen verheerend. Europäische Staaten scheitern bei der Bekämpfung des systematischen Steuerbetrugs.
Es fehlt den EU-Staaten am Bewusstsein, dass sie das Problem nur gemeinsam lösen können. Aufsichtsbehörden schieben ihre Verantwortung weg und behaupten, nicht zuständig zu sein. Aber selbst, wenn sie wollen: Oft hindern Gesetze die Behörden daran, wichtige Informationen miteinander zu teilen.
Auf der anderen Seite des Atlantiks läuft es besser: Die USA haben die Deals vor einigen Jahren erfolgreich gestoppt.
Währenddessen sitzt Shah in dem Restaurant in der Wüste von Dubai und erzählt ganz offen, dass er wieder loslegen will, sobald es möglich ist. „Wenn ich die Möglichkeit hätte, Geschäfte zu machen“, sagt er. „Ich würde sofort wieder damit anfangen.“
Der Cum-Ex-Banker Sanjay Shah
Wie alle guten Verkäufer ist Sanjay Shah ein redseliger Mensch. Aber kurz vor unserem Gespräch wirkt er vorsichtig.
Die Kamera steht bereit. Doch Shah will erst beginnen, wenn sein Anwalt da ist. Der steckt noch im Verkehr.
Im weltweiten Cum-Ex-Business soll Shah einer der abgebrühtesten Trader gewesen sein. Shahs Geschäfte: Auf maximale Rendite getrimmt. Shahs Partys: Legendär. Luxusyachten, Formel-1-Wochenenden, Privatkonzerte mit Prince, Elton John oder Ed Sheeran. Deshalb ist ein Team von CORRECTIV und ARD-Magazin „Panorama“ nach Dubai gereist.
Auch wenn Shah das anders sieht – er war wohl am größten Steuerraub aller Zeiten beteiligt. Eine ganze global vernetzte Branche brachte mit komplizierten Transaktionen Finanzämter dazu, eine einmal gezahlte Steuer mehrfach zu erstatten. Anders gesagt: Es geht bei diesen Geschäften nicht nur darum, Steuern zu vermeiden – Akteure wie Shah holten sich aus den öffentlichen Kassen Gelder, die sie nie eingezahlt hatten.
Cum-Ex heißen diese Art von Deals. Bei den verwandten Cum-Cum-Geschäften tauscht man eine Aktie so, dass man nur einen Teil der anfallenden Steuer zahlt. Man nennt sie auch steuergetriebene Geschäfte, weil die Rendite vom Staat kommt. Es ist Steuergeld.
Solche Geschäfte sind gewissermaßen das perfekte Verbrechen. Kompliziert, abstrakt, weit weg von unserem Alltag. Auf den ersten Blick gibt es keine Opfer. Niemand scheint direkt betroffen.
Dabei sind wir in Wahrheit alle betroffen. Denn die Milliarden, die Banker, Investoren und Finanzinstitute den Staaten geraubt haben, fehlen woanders: Beim Bau von Schulen, bei der Bezahlung von Ärztinnen oder Pflegekräften oder der Ausbildung von Feuerwehrleuten.
Es ist Geld, das uns allen zusteht.
Wie funktioniert Cum-Ex?
Einfach erklärt: Der Staat zahlt eine nie oder nur einmal gezahlte Steuer mehrmals zurück. Damit machen die Akteure Gewinn, und die Gesellschaft verliert Milliarden an Steuergeldern, die ihr zustehen.
Eine Metapher: Man kann es sich vorstellen wie einen Betrug um Kindergeld. Bei Cum-Ex-Geschäften lassen sich Deutsche, die gar keine Kinder haben, Kinder zum Schein aus London schicken und melden sie in Deutschland an. Ohne dass die Kinder wirklich bei ihnen wohnen oder essen. Dann geben sie die Kinder an Bekannte weiter, die die Kinder auch dem Amt melden. Die Bekannten überlassen die Kinder wiederum an eine andere Familie – und so weiter. Die Kinder leben gar nicht bei den Familien, sondern werden nur zum Schein auf dem Papier angegeben.
Schlussendlich schickt man die für den Betrug ausgeliehenen Kinder nach kurzem Aufenthalt in Deutschland wieder zurück nach London. Dort werden die Kinder wieder bei ihrer Familie angemeldet. Das deutsche Amt weiß das nicht und zahlt das Kindergeld ohne Umschweife an jede der deutschen Familien, die mitgemacht haben – also gleich mehrfach – aus. Also haben Familien ohne Kinder zu Unrecht Kindergeld bekommen. Das geklaute Kindergeld teilen sich dann alle Familien. Der einzige Unterschied: Bei Betrug mit Aktien geht es jedes Mal um Millionen von Euro aus unserem Steuertopf.
Die Banker nutzen also aus, dass die Finanzämter den Betrug nicht erkennen. Am Ende fehlt Geld, das sie sich ergaunern, aber an anderen Ecken. Für die Renovierung eines Kindergartens zum Beispiel.
Und so ist der Cum-Ex-Betrug auch eine Geschichte über Ungleichheit. Banker, Broker und steinreiche Investoren – Menschen mit Macht, Geld und Privilegien – greifen in die Kassen, in die wir alle einzahlen.
In Deutschland hat der Staat allein mit Cum-Ex-Deals mehr als sieben Milliarden Euro verloren, mit Cum-Cum 28,5 Milliarden. Insgesamt knapp 36 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Doppelte dessen, was der Afghanistan-Einsatz Deutschland in 20 Jahren gekostet hat.
Viele große und kleine Banken sind in den Skandal verstrickt, die Deutsche Bank, die Hypovereinsbank, die Commerzbank, die Hamburger Privatbank M.M. Warburg & Co. Die Affäre reicht bis in höchste politische Kreise. Der aktuelle Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD), damals Erster Bürgermeister von Hamburg, traf sich 2016 und 2017 mit dem Chef der Warburg-Bank, die mittlerweile 176 Millionen Euro aus Cum-Ex-Geschäften an den Staat zurückzahlen muss. Das Thema: Cum-Ex. Scholz streitet ab, dass er politischen Einfluss zugunsten der Bank genommen hat. An alles Weitere könne er sich nicht erinnern.
Doch Investmentbanker wie Shah interessieren sich nicht sonderlich für einzelne Länder. Warum nur Deutschland? Geld lässt sich auch in Spanien oder Frankreich, in Japan, Australien oder Südafrika verdienen. Der Marktplatz ist die ganze Welt.
Der Schaden weltweit beträgt umgerechnet mindestens 150 Milliarden Euro. Das haben wir mithilfe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern rund um den Mannheimer Wirtschaftsprofessor Christoph Spengel erstmals berechnet. „Es sind unglaubliche Milliardensummen an Steuerausfällen zu verzeichnen, diese Art der steuergetriebenen Geschäfte muss endlich gestoppt werden“, sagt Spengel zu den Ergebnissen. Er forscht seit Jahren zu steuergetriebenen Geschäften.
Das Steuergeld liegt nun auf Konten von Bankern, Tradern und Investoren. Der Banker Shah besaß zwischenzeitlich 25 Immobilien in London. Er lebt in Dubai in einer luxuriösen Villa auf der künstlichen Palmeninsel Jumeirah. Keine 10 Kilometer entfernt von der Restaurant-Bar, an der er nun steht und auf seinen Anwalt wartet.
Von hier aus organisiert er seine Verteidigung. In Dänemark, Belgien, Luxemburg und auch in Deutschland laufen Verfahren gegen ihn. Es kann sein, dass er bald sein Vermögen zurückgeben muss. Vielleicht muss er sogar ins Gefängnis.
Je enger es für Shah wird, desto mehr sucht er die Öffentlichkeit. Flucht nach vorne. Dann kommt Shahs Anwalt durch die Tür, schicker Anzug, die Turnschuhe von Prada. Dagegen wirkt Shah bodenständig. Jeans, Sneaker, T-Shirt. Shah setzt sich ins Scheinwerferlicht, zieht das T-Shirt zurecht, es kann losgehen.
Die Staatsanwältin, die Cum-Ex-Betrüger jagt
Rund 5.000 Kilometer davon entfernt sitzt die Staatsanwältin Anne Brorhilker in ihrem Kölner Büro und muss schmunzeln, als Reporter vom ARD-Magazin „Panorama“ Sanjay Shah erwähnen. Sie kennt ihn, er steht auf ihrer Liste der Beschuldigten. „Er ist sicher einer, der am meisten Risiko eingegangen ist“, sagt sie. Seine Geschäfte seien sehr auffällig gewesen, deshalb sei er schnell aufgeflogen.
Vor rund acht Jahren landete ein etwas kompliziert wirkender Fall von Finanzkriminalität auf Brorhilkers Schreibtisch. Mittlerweile ist die Jagd nach Cum-Ex-Betrügern zu ihrer Lebensaufgabe geworden. Sie ist Oberstaatsanwältin mit eigener Hauptabteilung, fast 100 Personen arbeiten für sie. Brorhilkers Job: Die Täter ermitteln und das Geld vom Staat zurückholen. Über die Jahre hat sie sich in das Thema eingearbeitet wie kaum jemand in Deutschland.
Brorhilker ist eine freundliche Frau mit trockenem Humor. „Ich finde das meistens sehr lustig, wenn mich jemand versucht anzuschreien“, sagt sie. Man kann sich vorstellen, wie das Macho-Gehabe cholerischer Banker und Rechtsanwälte an ihr abprallt wie ein Flummi von der Zimmerwand.
Sie wundert sich, warum Männer wie Shah sich so krampfhaft daran klammern, dass ihre Geschäfte legal waren. „Ich kann mir das nur so erklären, dass das Schutzmechanismen sind, um so lange wie möglich sich und seinem Umfeld eine Version von sich selbst zu präsentieren, mit der man gut leben kann“, sagt sie. Diese Männer seien es gewohnt, bewundert zu werden. Und jetzt sollen sie Straftäter sein?
Dabei sei vollkommen klar, dass Cum-Ex-Geschäfte illegal seien. Steuerhinterziehung. Punkt. Das hat im Sommer auch der Bundesgerichtshof bestätigt. Der Richter sagte, es sei um den blanken Griff in die Steuerkasse gegangen.
Mehr Personal, mehr Verantwortung und endlich ein klares Urteil vom Bundesgerichtshof. Das Jahr 2021 ist bisher ein gutes gewesen für Brorhilker und ihr Team.
Dazu ist im Sommer ein Ex-Warburg-Banker verurteilt worden, den Brorhilker angeklagt hatte. Für Cum-Ex-Geschäfte muss er fünfeinhalb Jahre ins Gefängnis. Ein Jahr zuvor waren bereits zwei britische Trader zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Beide lieferten Brorhilker Informationen über Deals und Geschäftspartner, zu denen sie nun weiterarbeitet.
Cum-Fake, eine dritte Variante von Steuerbetrug
Brorhilker spricht mit Zeugen, sie wertet Börsendaten aus und durchsucht Banken. Und was sie findet, bereitet ihr Sorgen.
„Wir haben einen Anfangsverdacht, dass es neue Modelle gibt“, sagt sie. Die Ausschläge der Transaktionen rund um den Dividendenstichtag einer Aktie – dem Tag, der für diese Art von Deals wichtig ist – seien ganz ähnlich wie zu den Hochzeiten von Cum-Ex. Zudem gebe es Aussagen von Kronzeugen, Gutachten von Kanzleien, die darauf hindeuten.
Wie bitte? Man kann also weiter in Deutschland Rendite mit Steuergeld machen?
In Deutschland sollten Cum-Ex-Geschäfte seit Anfang 2012 unmöglich sein, seit 2016 auch die artverwandten Cum-Cum-Geschäfte. 2018 bekamen zwei Reporter von CORRECTIV in einer Londoner Hotelsuite ein Angebot über steuergetriebene Investments. Die beiden trafen undercover als reiche Firmenerben einen Agenten, der bei Sanjay Shah gelernt hatte. Er hatte eine Präsentation dabei: Frankreich, Italien, Spanien, dazu Norwegen, Finnland, Polen und Tschechien. Überall dort lohne es sich. Aber Deutschland sei momentan zu heiß.
Die Staatsanwältin Brorhilker und ihr Team haben auch eine Vermutung, welche Art von Geschäften gerade gut laufen könnte. Zeugen haben davon erzählt, eine Behörde in den USA hat deswegen sogar schon Bußgelder verhängt.
Der Name: Cum-Fake. Nach Cum-Ex und Cum-Cum eine dritte Variante.
Die Geschäfte haben mit einer Eigenheit an der US-Börse zu tun. Um dort mit ausländischen Aktien handeln zu können, benötigt man ein Ersatzpapier, ein sogenanntes American Depositary Receipt (ADR).
Das Instrument wurde vor knapp 100 Jahren geschaffen, um lästige Umrechnungen und die Zeitverschiebung zu umgehen und so Zeit und Geld zu sparen. Eigentlich muss hinter jedem ADR-Papier eine ausländische Aktie stecken. Pre-Release-ADRs aber können ausgestellt werden, noch bevor die dazugehörige Aktie hinterlegt ist – damit alles noch schneller geht.
Die Aktie müsste innerhalb kurzer Zeit nachgereicht werden. Aber so genau nahmen das die Trader offenbar nicht. Und so konnten sie quasi selbst ein Papier erstellen, auf dem stand, dass sie eine ausländische Aktie besaßen – obwohl das nicht stimmte. Weil es diese Aktie in Wahrheit nicht gibt, heißen die Geschäfte „Cum-Fake“-Deals.
Warum Banker überhaupt so ein Produkt handeln wollen? Zum Beispiel, um an Steuererstattungen im Ausland zu kommen, auf die sie gar keinen Anspruch haben. So jedenfalls sieht es die Aufsichtsbehörde in den USA. Seit 2017 hat sie insgesamt Strafen von umgerechnet fast 380 Millionen Euro gegen 15 Banken verhängt, Merrill Lynch, JP Morgan, Société Générale, Citibank und auch gegen die Deutsche Bank – weil sie zu lax mit den US-Ersatzpapieren umgegangen sind. Die Banken zahlten zwar die Geldstrafen, gaben aber kein Fehlverhalten zu.
Auch der Banker Sanjay Shah hat sich angeblich für Cum-Fake-Geschäfte interessiert. Vor einigen Jahren wollte er mit einem Geschäftspartner deshalb ein Büro in New York öffnen. Sein damaliger Partner, Larry Meyers, gab 2019 zu, dass er illegale Geschäfte mit Pre-Release-ADRs gemacht hatte. Aus dem Büro sei nichts geworden, sagt Shah in Dubai. „Ich war nicht dabei, weil ich keine Kapazitäten hatte. Aber ich hätte es mir näher angeschaut.“
Die US-Behörde, die die Geldstrafen verhängte, hat auffällige Geschäfte mit angeblichen portugiesischen und französischen Aktien erkannt. Sowohl Insider, Ermittler und Experten sind sich einig: Möglich sind die Geschäfte mit praktisch jeder Aktie auf der Welt – auch mit deutschen. Und mit diesem Trick bekommt man dann unter Umständen eine Steuererstattung in Deutschland.
Ist das passiert?
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sagt: Unwahrscheinlich. „Auf Grundlage der aktuell verfügbaren Informationen glaubt die deutsche Aufsichtsbehörde nicht, dass mehrfache Steuererstattungen in diesen Fällen stattgefunden haben.“ So schreibt sie es im Jahr 2019 an die Europäische Marktaufsicht ESMA. Diese hatte ihre Mitglieder, also die Aufsichtsbehörden der Staaten, nach der Veröffentlichung der CumEx-Files 2018 von CORRECTIV und Partnermedien gefragt, was sie über steuergetriebene Deals wissen.
Doch es gibt Grund, an der Darstellung der BaFin zu zweifeln. Denn eine andere deutsche Behörde schlägt ein Jahr darauf Alarm: Der Bundesrechnungshof, der den deutschen Staatshaushalt überwacht. Im Oktober 2020 veröffentlicht die Behörde eine Pressemitteilung. Der Titel: „Cum/Fake-Geschäfte: Schlupfloch für Steuerbetrug schließen“. Im dazugehörigen Bericht beschreibt die Behörde auf 23 Seiten, warum Cum-Fake-Deals in Deutschland weiter möglich sind.
Hat die BaFin also geschlafen?
Die deutsche Aufsichtsbehörde gibt auf Anfrage von CORRECTIV schriftlich zu: „Im November und Dezember 2018 fanden Erörterungen mit Ermittlungsbehörden über die Relevanz der durch die US-Börsenaufsichtsbehörde getroffenen Feststellungen zu ADR-Transaktionen im Hinblick auf Kapitalertragsteuererstattungen durch deutsche Finanzbehörden statt.“ Sie behaupten, nicht zuständig zu sein: „Die BaFin hat weder eine gesetzliche Aufgabe noch die Befugnis zur Verfolgung von Steuerstraftaten.“
Hat die Behörde Maßnahmen ergriffen, nachdem der Bundesrechnungshof auf die noch bestehenden Betrugsmöglichkeiten aufmerksam gemacht hatte? Keine Antwort. Ist die BaFin der Ansicht, dass alle Gesetzeslücken, die steuergetriebene Geschäfte in Deutschland ermöglichen, geschlossen sind? Keine Antwort.
„Hinsichtlich gesetzgeberischer Entscheidungen darf ich Sie an die zuständigen Ministerien verweisen“, schreibt die Pressesprecherin der BaFin am Ende. Also nicht zuständig.
Das Bundesfinanzministerium (BMF) unter SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schreibt auf Anfrage von CORRECTIV und ARD-Magazin „Panorama“ dazu nur: „Dem Bundesfinanzministerium wurden von den Ländern keine Erkenntnisse für Dividenden-Arbitragegeschäfte mit ADRs für Zeiträume nach 2016 vorgelegt.“ Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und des Bundeszentralamts für Steuern seien für die Cum-Fake-Fälle vor 2016 noch nicht abgeschlossen. Das BMF schätzt allerdings bereits eine zugehörige Schadenssumme: „Das steuerliche Gesamtrisiko liegt nach bisherigen Erkenntnissen im unteren bis mittleren zweistelligen Millionenbereich.“
Zurück im Büro der Staatsanwältin Brorhilker in Köln. Wir wollen wissen: Könnte der Schaden durch Cum-Fake-Geschäfte in Europa ähnlich hoch sein wie bei Cum-Ex-Geschäften?
„Ja, das kann ich mir gut vorstellen“, sagt Brorhilker.
Das wären Milliarden.
Der Bundesrechnungshof appelliert an den Gesetzgeber, eine Cum-Ex-Staatsanwältin warnt. Und auch der Wirtschaftsprofessor Christoph Spengel ist überzeugt, dass man in Deutschland weiter steuergetriebene Deals machen kann. Und nicht nur Cum-Fake-Geschäfte, auch andere.
„Alles ist in Deutschland weiterhin möglich“, sagt er. „Das glaube ich nicht, das ist so.“
Cum-Ex-Banker Shah braucht angeblich nur einen Drucker
Wäre es nach Sanjay Shahs Eltern gegangen, dann wäre ihr Sohn Arzt geworden. So wie sein Vater. Shah studierte sogar ein paar Semester Biomedizin. „Aber ich hatte nicht die Motivation dafür“, sagt er. Viele Jahre in der Uni, danach noch eine lange Ausbildung im Krankenhaus, das war nichts für Shah. Er wollte Geld verdienen.
Shah stieg bei der Beratungsfirma KPMG ein, später lernte er bei der Bank Merrill Lynch das Handwerk: Derivate, Futures, Options, Forwards. Bei Credit Suisse lernte Shah schließlich seinen Mentor kennen, einen berüchtigten Neuseeländer: Paul Mora. Mora gilt als einer der Schlüsselfiguren hinter den Cum-Ex-Deals, heute wird er mit internationalem Haftbefehl gesucht. Damals wird er Shahs Chef. „Für ungefähr ein Jahr waren es nur Paul und ich“, sagt Shah.
Als die Finanzkrise 2008 einschlug, arbeitete Shah für die Rabobank. Shah wurde entlassen und machte sich selbständig – mit der Solo Capital LLP. In Dubai erzählt Shah, was er damals dachte: Ihr wollt mich nicht? Mach ich es eben alleine – solo!
Was Shah sagt, deckt sich mit einem handschriftlichen Lebenslauf aus den CumEx-Files. Er erzählt seine Biographie als Aufstiegsgeschichte eines bescheidenen Mannes, der alles für seine Familie tut. Der eine Stiftung zur Autismus-Forschung gründet und Charity-Events mit Rockstars organisiert – weil sein Sohn Autist ist. Es ist das Bild, das er auch über seine eigenen Kanäle nach außen trägt, über Interviews auf Youtube und Videos von seinen Hunden auf Instagram. Shah, der Familienmensch.
Es gibt aber noch eine andere Version. Die, die seine Partner und Weggefährten über ihn erzählen. Shah erscheint darin als skrupelloser und extravaganter Blender.
Cowboy. Verrückter Hund. So nennt ihn Benjamin Frey, ein Weggefährte von Shah. Frey heißt eigentlich anders, er gehörte zum inneren Zirkel des Steueranwalts Hanno Berger, der als Schlüsselfigur und geistiger Vater des Cum-Ex-Skandals gilt. Auch Frey hat bei Staatsanwältin Brorhilker ausgesagt. Und er ließ sich 2018 für die CumEx-Files interviewen – unter einer aufwändigen Maske, damit niemand ihn erkennen kann. Sein damaliger Chef Berger sitzt inzwischen in der Schweiz in Haft und kämpft gegen seine Auslieferung nach Deutschland.
Fast alle Aktienhändler hätten gewusst, dass es Grenzen gibt, sagt Frey. Aber nicht Shah. Der habe es so übertrieben, dass nicht mal sein Chef Berger mit ihm Geschäfte machen wollte. Frey erinnert sich auch an die Worte eines Traders: „Shah bringt uns noch alle ins Grab.“
Anonymer Briefkasten
Auch Martin S., einer der britischen Banker, die in Deutschland mit einer Bewährungsstrafe davonkamen, erinnert sich an einen maßlosen Angebertypen: „Shah war ein Mann, der etwas zu beweisen hatte.“ Shah habe sich einen Namen machen wollen. Deshalb die riskanten Deals. Deshalb die wilden Partys, Formel-1-Wochenenden und Privat-Konzerte mit Rockstars.
„Meine Partys waren legendär“, sagt Sanjay Shah, noch heute ein bisschen stolz. Sie seien teuer gewesen, aber dahinter steckte eine Idee: „Es war nicht nur, um Spaß zu haben, ich wollte Loyalität aufbauen.“ Also doch: Zufriedene Kunden, zufriedene Partner.
Und Geld.
Shah fand wohl einen Weg, nicht nur ein Rad im System zu sein – sondern die gesamte Maschine zu kontrollieren. Normalerweise müssen sich für Cum-Ex-Deals viele Partner absprechen, damit die Masche funktioniert. Shah aber wollte alles selbst machen – Cum-Ex „in house“ sozusagen. Also kaufte sich Shah eine Bank. Die Banken steuern in der Maschinerie die Schmiermittel bei: Millionen- oder Milliardenkredite. Und sie stellen die Bescheinigungen aus, die für die Steuererstattung nötig sind. Shah kaufte die Varengold-Bank in Hamburg.
„Wenn Sie alles selber steuern können, wenn Sie keinen Partner mehr brauchen, müssen Sie auch die Beute nicht teilen“, sagt der Insider, Banker und Kronzeuge Benjamin Frey. In Cum-Ex-Kreisen raunte man sich zu: Shah habe nur einen Drucker. Mehr brauche er nicht für die Steuerbescheinigungen.
Shah hat das System auf die Spitze getrieben. Er rotierte dieselben Aktien bis zu 20 Mal – und kassierte jedes Mal die Steuer. Looping nennt man das, selbst für Cum-Ex-Trader ist das ziemlich hemmungslos.
Nun fällt all das Schritt für Schritt auf Shah zurück. Am dringendsten suchen ihn die Dänen, dort ist der Schaden am größten: Über eine Milliarde Euro sollen es umgerechnet sein. Die dänische Steuerbehörde hat ihn in Großbritannien angeklagt, um Geld zurückzubekommen – erfolglos. Zugleich laufen Verfahren in Belgien und Luxemburg gegen ihn. Kürzlich hat ihn auch die Hamburger Staatsanwaltschaft wegen Geldwäsche angeklagt. Weil er seine Varengold-Bank in Hamburg für Cum-Ex-Trades genutzt haben soll.
Shah sagt, er habe noch viel Geld, umgerechnet mehr als eine halbe Milliarde Euro. Aber all das nützt ihm nun wenig. Die Behörden haben sein Vermögen eingefroren. Er darf lediglich sein Haus behalten und seine Anwälte bezahlen. Allein für die hat er 50 Millionen Dollar ausgegeben, schätzt Shah.
Auch wenn links und rechts von ihm die Cum-Ex-Kartenhäuser einstürzen, hält Shah daran fest: Ihm ist das alles nicht vorzuwerfen. In Shahs Welt herrscht ein verqueres Verhältnis zum Gesetz. Einerseits ist es der höchste Maßstab, Trader und Banken lassen teure Gutachten anfertigen, um zu belegen, dass ihre Deals legal sind. Andererseits ist ihnen eine ziemlich eingängige juristische Wahrheit egal: Man darf sich eine Steuer nicht mehrfach erstatten lassen.
Behörden reagieren nur sehr langsam auf den Cum-Ex Steuerbetrug
Fragt man Shah danach, ob er die Wut der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler über die Cum-Ex-Deals verstehen kann, dann schiebt er die Verantwortung von sich. Er stellt lieber eine Gegenfrage: „Warum fragt ihr nicht eure Regierungen, warum sie die Schlupflöcher nicht gestopft haben?“
Es wirkt so, als wollte Shah den Fokus von sich selbst ablenken. Aber in einem Punkt hat er recht: Die Behörden in ganz Europa wussten spätestens seit den Enthüllungen der CumEx-Files 2018, dass ihre Staatskassen geplündert werden können. Man könnte meinen, dass sie seitdem in Alarmbereitschaft sind, ihre Systeme überprüfen, Banker befragen, mit Politikern und Staatsanwältinnen sprechen.
Aber so ist es nicht. Im Gegenteil. Die Behörden in Europa versagen nach wie vor bei der Bekämpfung des systematischen Steuerbetrugs.
Langsam, lückenhaft, lustlos – das Vorgehen der Zuständigen in der öffentlichen Verwaltung gegen die organisierten Raubzüge offenbart erhebliche Schwächen, das zeigen dutzende öffentliche und interne Dokumente, die CORRECTIV einsehen konnte. Im Jahr 2019 schickten die EU-Bankenaufsicht EBA und die EU-Finanzmarktaufsicht ESMA Fragebögen an ihre Mitglieder – die nationalen Aufsichtsbehörden. In Deutschland ist das die BaFin, das Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Nach den Cum-Ex-Enthüllungen in Europa, die CORRECTIV leitete, wollten die EU-Behörden wissen: Was wisst ihr über steuergetriebene Deals wie Cum-Ex? Und was tut ihr dagegen?
CORRECTIV hat für diese Recherche die Abschlussberichte von EBA und ESMA ausgewertet, und zusätzlich die Antworten von über zwei Dutzend nationalen Aufsichtsbehörden in der EU. Wo die Dokumente nicht öffentlich waren, haben wir sie unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz angefragt.
Jedes Land in der Europäischen Union hat Aufsichtsbehörden, die Tag für Tag den Finanzmarkt beobachten. Sie suchen zum Beispiel nach illegalen Trades oder möglichen Fällen von Geldwäsche. Dafür können sie Berichte von Banken anfordern, Transaktionsdaten auswerten, Gespräche mit Bankern und Tradern führen. Sie können auch hohe Geldstrafen verhängen – wie die US-Aufsichtsbehörde das bei den Cum-Fake-Deals getan hat.
Jedes Land hat auch Finanzämter, die Steuern eintreiben, Belege prüfen, andere Steuern erstatten. Täuscht jemand das Finanzamt, dann ermitteln unter Umständen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte wegen Steuerhinterziehung. So wie die Cum-Ex-Staatsanwältin Brorhilker.
Das offensichtlichste Problem, das sich aus den Antworten der Länder ergibt: Es gibt kein gemeinsames Verständnis davon, wie man mit steuergetriebenen Deals wie Cum-Ex umgehen soll. Ist es Steuerhinterziehung, so wie der Bundesgerichtshof in Deutschland das bestätigt hat? In dem Fall wären Finanzämter und Staatsanwaltschaften zuständig.
Dann aber gibt es ein anderes Problem: Die Finanzämter der EU-Mitgliedsstaaten kooperieren kaum untereinander. Sie dürfen es oft gar nicht, das Steuergeheimnis verbietet es. Einzelne Finanzämter können die Muster aber schwer durchschauen.
Damit sich Finanzaufsichtsbehörden mit Cum-Ex-Deals befassen können, müssten sie in die Kategorie Marktmissbrauch fallen. Etwa, wenn sich verschiedene Akteure absprechen – ähnlich wie ein Kartell, das Preise festlegt. Glaubt man den Ermittlungen der Staatsanwältin Brorhilker und Insidern, so konnten die Cum-Ex-Geschäfte nur funktionieren, wenn sich verschiedene Akteure koordinierten. Wenn jeder eine klare Rolle hätte.
Nur: Die EU-Behörden, die die Fragebögen verschickten, kommen zu einem anderen Schluss. Es handele sich um eine Steuerangelegenheit, schreiben sie in ihren Berichten, daher erklärten sich die nationalen Aufsichtsbehörden für nicht zuständig. Die ESMA teilt diese Ansicht, wie aus einem ihrer Reporte hervorgeht.
Wie kann das sein? Drücken sich hier Behörden weg?
Der Anwalt Alexander Heist befasst sich seit Jahren mit Cum-Ex und anderen steuergetriebenen Deals. Er sagt klar: Ja. „Ich halte diese Ansicht [der ESMA] für grob falsch.“ Gerade die EU-Finanzaufsicht ESMA sollte zuständig sein, weil es unter anderem um Marktmissbrauch gehe.
Die EU-Behörde teilt diese Ansicht allerdings nicht und besteht darauf, dass nur die nationalen Aufsichtsbehörden zuständig sind: „Die ESMA hat keine Aufsichtsbefugnis in Bezug auf Marktmissbrauch, es liegt daher an den zuständigen nationalen Behörden, zu beurteilen ob eine Geschäftspraxis als Marktmissbrauch einzustufen ist“, schreibt sie an CORRECTIV.
Aber auch für die nationalen Aufseher kann es schwierig sein, die Betrüger zu überführen. Die ESMA gibt zu, dass Cum-Ex-Deals marktmissbräuchlich sein können. Allerdings sei das „normalerweise nicht der Fall, weil die Täter versuchen, manipulatives Verhalten zu vermeiden, um nicht entdeckt zu werden.“ In anderen Worten: Sie sind schlau genug, um das System auszutricksen.
Was die europäische Behörde in ihrem Abschlussbericht nur am Rande erwähnt: Es gibt einige nationale Aufsichtsbehörden, die sich sehr wohl zuständig fühlen und nach steuergetriebenen Deals fahnden – in Luxemburg, den Niederlanden und Großbritannien zum Beispiel. Und die britische Aufsichtsbehörde hat offenbar sogar ein effektives Werkzeug, um mögliche dubiose Deals zu erkennen: Ein System, das bei auffälligen Transaktionen rund um den wichtigen Dividendenstichtag Alarm schlägt. So steht es im britischen Länderbericht.
Die ESMA schreibt dagegen offenbar desinteressiert: Die britische Behörde habe eben mehr Befugnisse als Behörden in anderen Staaten. Das stimmt zwar. Aber eine ambitionierte EU-Finanzaufsicht könnte auch anders reagieren, sie könnte zum Beispiel für das Werkzeug werben – und dafür, dass die Aufsichtsstellen eben auch in anderen Staaten mehr Kompetenzen bekommen. Ähnlich wie die Finanzmarktaufsichtsbehörde FCA in Großbritannien.
Doch die ESMA sagt lieber: Sorry, nicht zuständig.
„Die Erfahrungen der UK FCA wurde im Rahmen der Tätigkeiten der ESMA berücksichtigt und mit den zuständigen nationalen Behörden geteilt.“ Das ist alles. Hat die ESMA erwogen, ein vergleichbares System wie das der Briten auch auf europäischer Ebene einzuführen? Keine Antwort.
Sven Giegold, finanzpolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament, sieht das Problem in der Leitungsstruktur der Behörden: „Alle Mitgliedstaaten sind im Rat der Aufseher der ESMA vertreten und haben kein Interesse an unbequemen Untersuchungen in die Arbeit ihrer eigenen Aufsichtsbehörden.“ Den Mitgliedstaaten hat es bisher am politischen Willen gefehlt, ihren Einfluss zugunsten der Interessen Europas zurückzustellen, schreibt er CORRECTIV.
Auch die BaFin in Deutschland hat offenbar Transaktionsdaten ausgewertet, um eventuellen steuergetriebenen Trades auf die Spur zu kommen, ähnlich wie die Briten. Nur, dass das Ergebnis ganz anders ist. Man bekäme damit Hinweise auf Cum-Ex-Deals, für Cum-Cum-Geschäfte und Cum-Fake-Geschäfte seien die Daten aber nicht geeignet, heißt es in der Antwort.
Wie kann das sein? Die britische Aufsichtsbehörde liest etwas aus den Transaktionsdaten. Die BaFin nicht? Die deutsche Aufsichtsbehörde hat sich dazu auf Anfrage nicht geäußert.
Der Steuerstrafanwalt Heist kann sich die Befunde der BaFin nicht erklären. Er und andere Fachleute glauben, dass die Daten ausreichen, um mögliche Deals zu erkennen. „Ich halte die Analyse von Marktdaten für möglich und zielführend.“
Ein weiteres Problem, das aus den Dokumenten hervorgeht: Der mangelnde Austausch unter Behörden. Zum Teil kooperieren die Behörden noch nicht einmal innerhalb der jeweiligen Länder miteinander. Die Finanzämter sprechen nicht mit der Finanzmarktaufsicht. Die Staatsanwaltschaft arbeitet alleine vor sich hin. Dabei könnte man steuergetriebene Deals viel leichter erkennen, wenn man Informationen kombiniert. Auch könnten die Aufsichtsbehörden die Finanzämter warnen: Erstattet die Steuer nicht, das ist ein Cum-Ex-Geschäft! In Österreich ist dieser Mangel an Kommunikation besonders offensichtlich. Die Aufsichtsbehörden dürfen laut Gesetz gar nicht mit den Finanzämtern über Steuervorgänge sprechen.
Es gibt aber noch eine andere Behörde, die für Cum-Ex-Geschäfte zuständig sein könnte: die Geldwäsche-Aufsicht. Wenn Cum-Ex strafbar ist, dann betreiben Banker und Investorinnen Geldwäsche, wenn sie die Gewinne aus den illegalen Geschäften anlegen. Der Banker Shah ist in Deutschland deswegen angeklagt. Weil er die Varengold-Bank in Hamburg genutzt haben soll, um die Gewinne weiterzuleiten.
Die Geldwäsche-Behörden scheinen aber auch drei Jahre nach den Cum-Ex-Enthüllungen zu schlafen. 24 nationale Behörden haben der EU-Bankenaufsicht EBA geantwortet. Nur zwei davon glauben, dass steuergetriebene Deals die Risiken für Geldwäsche erhöhten. Die niederländische Geldwäsche-Aufsicht hat offenbar bereits kapituliert. Solche Geschäfte seien „unvermeidbar aufgrund von Unterschieden in der Besteuerung von bestimmten Gruppen von Aktionären“, schreibt sie.
Die Berichte zeigen, wie bürokratische Hemmnisse und Ineffizienz einen strategischen Kampf gegen den Steuerraub praktisch unmöglich machen: Statt sich über ein wirksames Vorgehen auszutauschen und Instrumente zu entwickeln, verstricken sich die Behörden in Zuständigkeitsfragen und Verwaltungs-Kleinklein. Genau deshalb haben unlautere Geschäftsleute auf dem Finanzmarkt offenbar auch weiterhin Zugriff auf die Steuerkassen.
Der Wirtschaftsprofessor Christoph Spengel kann das nicht nachvollziehen. „Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Staaten durch Cum-Ex- und Cum-Cum-Transaktionen getroffen werden, hinter denen häufig global handelnde Akteure stehen, ist das mangelnde Bewusstsein unverständlich“, sagt er. Auch der Steuerstrafrechtler Alexander Heist ist alarmiert: „Man kann das insoweit wie den Kampf gegen den Klimawandel begreifen. Es betrifft alle, aber der nachhaltige Erfolg stellt sich nur ein, wenn alle an einem Strang ziehen.“
Dabei hätten die Behörden durchaus Macht. Das hat die Finanzmarktaufsicht in den USA ja demonstriert. Und auch auf politischer Ebene waren die USA schneller als die EU. Bereits 2010 verabschiedete man dort ein Gesetz, das Cum-Ex und ähnliche Geschäfte unmöglich machte – zwei Jahre vor Deutschland. Grundlage war ein Bericht des demokratischen Senators Carl Levin, in dem er Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte beschrieb und eine ganze Reihe Banken benannte, die daran beteiligt seien. Levin stellte ihn im September 2008 vor – und er hätte auch in Europa Alarm auslösen müssen. Wahrscheinlicher ist, dass ihn kaum jemand las. Nur vier Tage später, am 15. September, meldete die Investment-Bank Lehman Brothers Insolvenz an und löste eine weltweite Finanzkrise aus.
Cum-Ex: Banken und Hedgefonds sind den Behörden immer einen Schritt voraus
Banker, die sich immer neue Manöver ausdenken, um an Steuergeld zu kommen. Aufsichtsbehörden, die genau das schnell erkennen sollten. Und Staatsanwältinnen und -anwälte, die hinterher ermitteln. In einem sind sich die Verfolgerin Brorhilker und der Verfolgte Shah einig: Die Banker haben die Nase vorn.
„Leider zieht Geld schlaue Leute an“, sagt der Banker Shah. Der Staat könne nicht die Superhirne einstellen, die Investmentbanken beschäftigen können. „Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel und die Banken und Hedgefonds werden immer einen Schritt voraus sein.“
„Wir brauchen dazu wirklich Expertenwissen“, sagt Brorhilker. „Und Expertenwissen haben wir ja offensichtlich nicht, denn sonst würde es ja nicht passieren.“
Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen der Staatsanwältin Brorhilker und den Beamtinnen und Beamten bei den Aufsichtsbehörden, die die illegalen Deals schnell erkennen sollten. Brorhilker sieht mehr, weil sie ganz andere Werkzeuge hat.
Die Behörden müssen sich auf das verlassen, was die Banker ihnen sagen, die sie beaufsichtigen. Brorhilker kann Büros durchsuchen, Server beschlagnahmen oder Informationen von Insidern verwerten, weil sie ihnen Steuererleichterungen anbietet. Deshalb kennt Brorhilker auch E-Mails, in denen sich Trader und Hedgefonds-Manager kaputtlachen über Deutschland und sein Steuergeheimnis. Powerpoint-Präsentationen mit witzigen Smileys an den entsprechenden Stellen. Den ganzen Hohn der Hochstapler.
„Das sieht natürlich keine andere Behörde“, sagt sie. „Die erleben nur die Menschen, wenn sie höflich und gepflegt vor ihnen stehen.“
Höflich und gepflegt sitzt Sanjay Shah in Dubai vor den Kameras, spricht über seine Familie, Charity-Galas und seine wahre Leidenschaft: die Musik. Das alles ist sicherlich nicht falsch. Aber es ist nur eine Seite der Medaille.
Sanjay Shah macht in Dubai sogar einen Vorschlag, wie man Cum-Ex-Deals unterbinden könnte. Eine Art Barcode für jede Aktie, spezifisch und unverwechselbar. So könnten die Finanzämter erkennen, dass sie für dieselbe Aktie mehrfach Steuern erstatten. „Ich glaube, das wäre einfach umzusetzen“, sagt er.
Und wieder hat Shah mit seinem Vorschlag einen unwahrscheinlichen Verbündeten. Diesmal ist es der Wirtschaftsprofessor Spengel aus Mannheim. Mit einem eindeutigen Code für Aktien, Dividenden oder die abgeführte Steuer könne man Cum-Ex-Geschäfte unterbinden, sagt er. „Es ist unverständlich, warum dies in Deutschland und in anderen betroffenen Ländern nicht umgesetzt wird.“
Steuerstrafanwalt Alexander Heist pflichtet bei. „Es handelt sich um Geschäfte ohne wirtschaftlichen Gehalt, die den Märkten nichts bringen und nur Risiken bergen“, sagt er. Dabei ließen sie sich gut verhindern. „Der Schlüssel ist die Herstellung von Transparenz.“
Staatsanwältin Brorhilker glaubt an die Behörden. Sie setzt auf Expertise, mehr Personal und Austausch. Und doch ist sie mit den Jahren realistischer geworden. Und pessimistischer als der Anwalt Heist. „Das ist so komplex“, sagt sie. „Es kann sein, dass wir das nicht komplett stoppen können.“
Wenn es nach Anne Brorhilker geht, macht sie Cum-Ex bis zur Rente. Sie ist jetzt 47, das wären noch rund 20 Jahre. Die Arbeit, sagt sie, wäre da. „Wenn wir ermitteln dürfen, werden wir lange ermitteln.“
Sanjay Shah will sich seinen Gerichtsverfahren stellen, er habe keine Angst. Aber vorerst bleibt er lieber in Dubai, um einer möglichen Untersuchungshaft zu entgehen, bevor der Prozess beginnt.
Wenn er verliert, sei er pleite, sagt Shah. „Dann will ich als Psychologe arbeiten.“ Er plane gerade, mit dem Studium anzufangen.
Und wenn er gewinnt?
„Dann werde ich viel Geld haben.“ Geld von uns allen.
Ihre Spende stärkt
investigativen Journalismus
Politik und Behörden versagen bei der Aufgabe, Steuerraub zu stoppen. Um Gerechtigkeit zu schaffen, müssen Journalistinnen und Journalisten hartnäckig bleiben und deutlich auf Missstände hinweisen. Das ist der Kern unserer Arbeit. Als vielfach ausgezeichnetes Medium stehen wir für investigativen Journalismus, der nicht nachgibt.
Tiefgreifende und langfristige Recherchen können Veränderungen anstoßen. Als vierte Gewalt in unserer Gesellschaft hinterfragen Journalistinnen und Reporter Machtverhältnisse und identifizieren Menschen, die ihre Positionen missbrauchen. Sie zeigen Ungleichheit auf, damit Lösungen gefunden werden können.
Leisten Sie heute Ihren Beitrag dazu.
Unsere unabhängigen Recherchen leben von den Spenden unserer Leserinnen und Leser. Mit nur 10 € können Sie heute einmalig investigativen Journalismus stärken oder uns langfristig mit einem regelmäßigen Beitrag unterstützen. So sichern Sie auch in Zukunft Enthüllungen wie die CumEx-Files.
Spotlight Newsletter
Unsere vielfach ausgezeichnete Investigativ-Redaktion findet für Sie herausragende Stücke des Journalismus. Jeden Samstag die besten Recherchen kostenlos in Ihrem Postfach.
CumEx-Files
AKTEURE
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) kontrolliert und beaufsichtigt das deutsche Finanzwesen. Sie wiederum wird durch das Bundesfinanzministerium (BMF) beaufsichtigt. Das BMF erfuhr über einen Whistleblower schon 2009 von systematischen Cum-Ex-Betrügen, den Hinweis leitete das Ministerium aber nicht an Steuerfahnder oder Strafverfolger weiter. Es ist auch für die schleppende Aufarbeitung der Vorgänge verantwortlich. Aber es gibt noch weitere Überschneidungen von Politik und Cum-Ex-Geschäften.
Fast alle Großbanken in Deutschland und viele internationale Banken waren an Cum-Ex-Geschäften beteiligt. Sie stellten Aktien für die Transaktionen zur Verfügung, verkauften und vermarkteten Cum-Ex-Investments oder investierten selbst in Cum-Ex-Deals.
Steuerrechtskanzleien und Wirtschaftsprüfer spielten eine Schlüsselrolle in den Cum-Ex-Deals. Die Kanzleien interpretierten die Steuergesetze zum Vorteil ihrer Mandanten und bestätigten diesen in „legal opinions“, dass die Geschäfte legale Steuerschlupflöcher seien. Wirtschaftsprüfer untersuchten zwar die Rechtmäßigkeit von Cum-Ex, machten aber ihre Zweifel nicht öffentlich.
Viele Investorinnen und Investoren berufen sich darauf, nichts von dem Steuerbetrug gewusst zu haben. Aufgrund der hohen Gewinne hätten bei ihnen allerdings Fragen zum Geschäft aufkommen müssen. Bekannte Investorinnen und Investoren waren:
CumEx-Files
CHRONIK
Bevor die Cum-Ex-Geschäfte Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen und Schlagzeilen wurden, waren sie das Geheimnis einer kleinen Gruppe von Bankern und Anwälten, die sie mindestens seit Anfang der 2000er Jahre betrieben. Klicken Sie im Zeitstrahl auf einen der Punkte, um weitere Informationen über jedes Ereignis zu erhalten.
CumEx-Files
KOOPERATION
16 Medien von allen fünf Kontinenten haben gemeinsam recherchiert. Hier finden Sie alle Veröffentlichungen.
Wählen Sie ein Land
NEW Wer sind die Cum-Ex-Akteure?
CORRECTIV
Held, Dieb oder Spion?
CORRECTIV
The CumEx Files – Dossier
Follow the money
De Systematische Beroving Van Europese Belastingdiensten
Follow the money
Podcast: The CumEx Files – interview met Eric Smit
Follow the money
NEW Cómo funciona el lavado de cupón
El Confidencial
Dividendos Black Espana Victima Fraude Fiscal
El Confidencial
Dividendos Black Que Es Venta A Corto
El Confidencial
Dividendos Black Que Es Cum-Ex
El Confidencial
What is cum-ex trading and what is Ireland’s role in it?
The Irish Times
CumEx Files 2.0
-
CumEx Files 2.0
ABC
CumEx Files 2.0
NBC
Cum-Ex
KURZ ERKLÄRT
Was sind die CumEx-Files?
Mit der ersten CumEx-Files Veröffentlichung haben wir 2018 Geschichte geschrieben. Es war der größte bis dahin bekannte Steuerbetrug in Europa: 55 Milliarden Euro. Obwohl die deutschen Medien bereits über den Betrug berichtet hatten, recherchierte kein Medium bis dahin die internationale Dimension des Diebstahls. CORRECTIV leitete das Team von 18 Medien aus einem Dutzend europäischer Länder, das ein Jahr lang die durchgesickerten Dokumente untersuchte.
Die CumEx-Files 2.0 schlagen ein neues Kapitel auf: neue Datenlecks, neue Protagonisten, neue Steuertricks und eine neue Summe. Und eine neue – weltweite – Recherche-Kooperation. Dieses Mal geht es nicht um 55 Milliarden, sondern 150 Milliarden Euro. Auch drei Jahre nach der ersten Veröffentlichung koordiniert CORRECTIV die internationale Zusammenarbeit und zeigt neben der weltweiten Summe auch, wie wenig Gesetzgeber und Strafverfolgung bisher erreicht haben, um dem Betrug ein Ende zu setzen und die Kriminellen vor Gericht zu verurteilen.
Nach der ersten Veröffentlichung ist die europäische Zahl von 55 Milliarden Euro zu einem Maßstab für den Cum-Ex-Schaden geworden. Bis dahin wusste niemand, wie viel Geld wirklich geraubt wurde. Also auch nicht, wie groß das Problem ist. Diesmal sind wir mit Kolleginnen und Kollegen von allen fünf Kontinenten zusammen gekommen, um die neue Summe zu ermitteln. Im Schatten der letzten Jahre ist der Cum-Ex-Betrug noch komplizierter und raffinierter geworden. Er hat nachgerüstet. Aber unsere Recherchekooperation CumEx-Files auch.
Warum sollte ich mich für Cum-Ex interessieren?
Wie funktioniert Cum-Ex?
Eine Metapher: Man kann es sich vorstellen wie einen Betrug um Kindergeld. Bei Cum-Ex-Geschäften lassen sich Deutsche, die gar keine Kinder haben, Kinder zum Schein aus London schicken und melden sie in Deutschland an. Ohne dass die Kinder wirklich bei ihnen wohnen oder essen. Dann geben sie die Kinder an Bekannte weiter, die die Kinder auch dem Amt melden. Die Bekannten überlassen die Kinder wiederum an eine andere Familie – und so weiter. Die Kinder leben gar nicht bei den Familien, sondern werden nur zum Schein auf dem Papier angegeben.
Schlussendlich schickt man die für den Betrug ausgeliehenen Kinder nach kurzem Aufenthalt in Deutschland wieder zurück nach London. Dort werden die Kinder wieder bei ihrer Familie angemeldet. Das deutsche Amt weiß das nicht und zahlt das Kindergeld ohne Umschweife an jede der deutschen Familien, die mitgemacht haben – also gleich mehrfach – aus. Also haben Familien ohne Kinder zu Unrecht Kindergeld bekommen. Das geklaute Kindergeld teilen sich dann alle Familien. Der einzige Unterschied: Bei Betrug mit Aktien geht es jedes Mal um Millionen von Euro aus unserem Steuertopf.
Die Banker nutzen also aus, dass die Finanzämter den Betrug nicht erkennen. Am Ende fehlt Geld, das sie sich ergaunern, an anderen Ecken. Für die Renovierung eines Kindergartens zum Beispiel.
Was heißt eigentlich „Cum-Ex“?
Der Gesellschafter oder die Gesellschafterin kauft die Aktien vom Unternehmen, kurz bevor dieses die Gewinne ausschüttet. Danach verkauft er sie wieder, oder andersherum. Da die Aktien schnell zwischen mehreren Besitzern wechseln und der Staat nicht erkennen kann, wem die Aktie zu welchem Zeitpunkt gehört, erhält jeder der beteiligten Akteure eine Steuerbescheinigung. Bei Privatpersonen wird bei der Ausschüttung der Dividenden von Aktien die Kapitalertragssteuer (in Deutschland 25 %) fällig. Unternehmen und Fonds können sich diese Steuer mit der Steuerbescheinigung unter bestimmten Umständen später zurückerstatten lassen.
Damit haben alle Parteien Anspruch auf eine Steuerrückerstattung, obwohl die Steuer auf den Gewinn (Dividende) nur einmal gezahlt wurde. Der einzige Zweck dieser Aktienverkäufe ist, Steuerbescheinigungen zu erzeugen.
Wie viel Geld wurde geraubt?
In Deutschland, Dänemark und den Niederlanden sind die Steuerbehörden noch dabei, den finanziellen Schaden für die öffentlichen Kassen zu ermitteln. In anderen Ländern haben die Verantwortlichen in den oberen Etagen noch nicht einmal zugegeben, dass sie dem Betrug zum Opfer fielen, obwohl Recherchen dies nachweisen.
Die Berechnungen der aktuellsten Recherche gehen von einem weltweiten Schaden von 150 Milliarden Euro aus.
Sind Cum-Ex-Deals und ähnliche Geschäfte noch möglich?
Das Bundesfinanzministerium hat die Variante Cum-Cum, auch eine Form des Steuerbetrugs, durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2016 theoretisch gestoppt. Christoph Spengel, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Mannheim, ist jedoch der Ansicht, dass diese Gesetzesänderung nicht zur Eindämmung des Betrugs beigetragen hat.
Darüber hinaus geht der Bundesrechnungshof davon aus, dass in Deutschland sogenannte Cum-Fake-Deals – eine weitere Variante der Cum-Ex-Geschäfte – noch mindestens bis Ende 2020 möglich waren.
Einer der Hauptakteure der Cum-Ex-Deals, der ehemalige britische Händler Sanjay Shah, gegen den in vier europäischen Ländern ermittelt wird, sagt, er wolle sein Geschäft wieder aufnehmen, das aus seiner Sicht völlig legal ist.
Es sprechen also viele Hinweise dafür, dass der Steuerraub auch weiterhin möglich ist.
Warum ist es so schwer, Cum-Ex-Geschäfte zu stoppen?
Ist Cum-Ex strafbar?
Was wurde getan, um künftige Cum-Ex-Betrüge zu verhindern?
Nach Veröffentlichung der CumEx-Files 2018 nahm das EU-Parlament eine Resolution an, die unter anderem, „die Tatsache beklagt, dass der für Steuerangelegenheiten verantwortliche Kommissar nicht die Notwendigkeit sieht, das bestehende System zum Austausch von Informationen zwischen nationalen Steuerbehörden auszuweiten.“ Sowohl die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) als auch die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) veröffentlichten 2020 Berichte zum Thema Cum-Ex-Geschäfte. Beide hielten fest, dass es nicht ihre Aufgabe sei, den Steuerbetrug zu stoppen, weil Steuerangelegenheiten nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Die internationale Zusammenarbeit ist jedoch dringend notwendig, um effektiv gegen den Betrug vorzugehen.
Cum-Ex: Gab es schon Verurteilungen?
Jüngst verurteilte ein Gericht in Bonn zudem einen früheren Mitarbeiter der M.M.Warburg Bank zu fünfeinhalb Jahren Haft. Er war der erste Banker, der jemals eine Gefängnisstrafe für seine Beteiligung an Cum-Ex-Geschäften erhielt.
Im Dezember 2022 wurde Hanno Berger in Bonn zu acht Jahren Haft verurteilt, das gleiche Urteil, das im Mai 2023 vom Landgericht Wiesbaden gegen ihn verhängt wurde. Dänemark hat acht Personen angeklagt und Klage in Großbritannien, den USA und Dubai eingereicht. Andere Länder haben ebenfalls Ermittlungen eingeleitet, die zu weiteren Anklagen führen könnten.
Gegen wie viele Menschen wird ermittelt?
Was kann ich tun?
Ein anderer guter Weg, etwas zu tun, ist es auch, diese Recherche an ihre Freundinnen, Bekannte und andere Interessierte zu schicken. Je mehr Menschen von den CumEx-Files 2.0 wissen, desto größer wird der gesellschaftliche Druck.
Und zu guter Letzt: Spenden Sie für investigativen Journalismus. CORRECTIV ist gemeinnützig. Tausende Unterstützerinnen und Unterstützer haben es möglich gemacht, dass diese Recherchekooperation zeigen konnte, wie groß das Problem ist und welche Lücken gestopft werden müssen. Außerdem erhalten Sie für Ihre Spende einen Beleg – den können Sie ganz legal steuerlich geltend machen.
Videos
Der Insider
CORRECTIV, 71 MIN
Erstmals äußert sich einer der Hauptbeschuldigten ausführlich zur Cum-Ex-Maschinerie. Er ist Kronzeuge im größten Steuerermittlungsverfahren, das diese Republik je geführt hat.
So stehlen skrupellose Banker IHR Geld
CORRECTIV
Warum sollten Sie sich für Cum-Ex und Cum-Cum interessieren? Ganz einfach: Es ist Ihr Geld, das die Betrügerinnen und Betrüger geklaut haben. Geld, für das Sie gearbeitet haben und noch weiter arbeiten müssen.
Auf der Spur
des Geldes
ZDF-Info
Die Doku begleitet die CORRECTIV-Redaktion bei den Recherchen zum Cum-Ex-Skandal und der AfD-Spendenaffäre und liefert einmalige Einblicke hinter die Kulissen. Die Filmemacherinnen zeigen eindrücklich, welche Rolle investigativer Journalismus als vierte Gewalt in politischen Systemen spielt.
Recherche-TEAM
Olaya Argüeso Pérez
CORRECTIV
Oliver Schröm
NDR
Manuel Daubenberger
NDR/CORRECTIV
Stefan Melichar
PROFIL
Armin Ghassim
NDR
Mario Christodoulou
ABC
Lars Bové
De Tidj
Lea Busch
NDR/PANORAMA
Giulio Rubino
CORRECTIV
Jonas Seufert
Jérémie Baruch
LE MONDE
Anne Michel
LE MONDE
Maxime Vaudano
Le Monde
Angelo Mincuzzi
Il Sole 24 Ore
Jack Power
The irish times
Annelise Giseburt
Tansa
Nanami Nakagawa
Tansa
Mariko Tsuji
Tansa
Makoto Watanabe
Tansa
Laurent Schmit
Reporter.lu
Eric Smit
Follow the money
Knut Kainz Rognerud
SVT
Ola Westerberg
SVT/freelance
Óscar Giménez
El Confidencial
Dewald van Rensburg
amaBhungane
Theo Legget
BBC
Gretchen Morgenson
NBC
Luise Lange-Letellier
CORRECTIV
Benjamin Schubert
CORRECTIV
Belén Ríos Falcón
CORRECTIV
Sophia Stahl
CORRECTIV
Valentin Zick
CORRECTIV
Veröffentlicht am 21. Oktober 2021
Projektleitung: Olaya Argüeso Pérez
Recherche: Olaya Argüeso Pérez, Oliver Schröm, Manuel Daubenberger
Text: Olaya Argüeso Pérez, Jonas Seufert
Design: Benjamin Schubert, Belén Ríos Falcón
Umsetzung: Benjamin Schubert
Redaktion: Sophia Stahl, Miriam Lenz, Hatice Kahraman, Jonathan Sachse, Katarina Huth, Justus von Daniels, Gabriela Keller, Frederik Richter, Marcus Bensmann, Isabel Knippel, Max Donheiser
Kommunikation: Luise Lange-Letellier, Valentin Zick, Maren Pfalzgraf
Fotonachweise: Felix Meschede, ARD Panorama| picture alliance/dpa, Michael Kappeler | picture alliance / Eventpress | Eventpress Stauffenberg | picture alliance / Geisler-Fotopress | Frederic Kern / Geisler-Fotopress, picture alliance / Fotostand | Fotostand / Racocha, picture alliance / Eventpress | Eventpress Schraps, picture alliance/dpa | Henning Kaiser, picture alliance/dpa | picture alliance/dpa | Oliver Berg | picture alliance / Daniel Kalker | Daniel Kalker | Friso Gentsch, picture alliance / AP Photo | JAN PITMAN | TheTroothFairy (CC BY-SA 4.0) Bilddatei wurde bearbeitet | Pittigrilliderivative work: Georgfotoart (CC BY-SA 4.0) Bilddatei wurde bearbeitet